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Der Familienrat – eine Umkehr des Helfer:innensystems

Der Familienrat – eine Umkehr des Helfer:innensystems

Betroffenen in herausfordernden Situationen beizustehen, ist die Kernaufgabe der Sozialen Arbeit. Nicht immer aber ist die professionelle Hilfe am wirksamsten. Am Verfahren des Familienrats zeigt sich, dass die Lösungen der Klient:innen oft ebenso zielführend sein können. Das Buch «Familienrat / Family Group Conference – Starke Netzwerke für gemeinsame Lösungen» geht diesem innovativen Ansatz auf den Grund.

Man stelle sich vor, ein Jugendlicher ist gefährdet, die Schule ohne Abschluss abzubrechen. Oder aber eine Alleinerziehende erkrankt plötzlich schwer oder die Kinder leiden unter der Scheidung ihrer Eltern. Wie würde man als Familie auf eine solche Krise reagieren?

Hilfe zur Selbsthilfe

Das Conferencing-Verfahren Familienrat, das im neuen Buch der HSLU-Forscherinnen Annette Dietrich, Pia Gabriel-Schärer und Anne Zimmermann behandelt wird, beruht auf der Prämisse, dass die Menschen und ihre Netzwerke über mehr Ressourcen verfügen als sie oft glauben. Man geht davon aus, dass die Betroffenen Expertinnen und Experten in eigener Sache sind und mit Unterstützung ihres Umfeldes eigene, passende, und teilweise kreative, Lösungen für ihre Probleme finden können.

Ursprünglich geht das Verfahren auf den Wunsch der Maori in Neuseeland zurück, in Krisensituationen und beim Erarbeiten von Lösungen stärker einbezogen zu werden. Seit 1989 ist es in Neuseeland bei der Kinder- und Jugendhilfe gesetzlich verankert und wird auch in Europa, insbesondere im skandinavischen, angelsächsischen oder deutschen Raum, immer bekannter. Denn das ressourcenorientierte Vorgehen kann in vielen schwierigen Lebenssituationen angewendet werden, in denen Entlastung oder Reflexion erforderlich sind. In letzter Konsequenz ermöglicht das Verfahren «Hilfe zur Selbsthilfe», wie es Regula Enderlin, Co-Präsidentin des Vereins FamilienRat Schweiz, ausdrückt.

«Das Verfahren ermöglicht Hilfe zur Selbsthilfe. Es bricht die Rollenmuster im Helfersystem auf.»

Regula Enderlin, Co-Präsidentin Verein FamilienRat Schweiz

Worum geht es?

Kurz gesagt: Beim Familienrat werden die Probleme einer Familie nicht mithilfe der Sozialen Arbeit gelöst, sondern durch die betroffene Familie selbst. Sie erarbeitet mit Unterstützung von Angehörigen oder Freund:innen einen Hilfeplan, um die herausfordernde Situation zu bewältigen. Das Bahnbrechende: Die Familie schlägt vor, welche Massnahmen ergriffen werden. Der aktive Part liegt somit bei den Klient:innen, die in gewissen Phasen des Prozesses (Family Only-Phase) auch allein agieren, während die Fachpersonen neutral bleiben. Oder in den Worten von Regula Enderlin: «Das Verfahren bricht die Rollenmuster im Helfersystem um.»

Selbstwirksamkeit durch Rollentausch

Natürlich ist die Familie dabei nicht auf sich allein gestellt. Der Familienrat ist ein professionelles, mehrstufiges und strukturiertes Verfahren, das von verschiedenen Anlaufstellen (wie Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, Berufsbeistandschaften, Beratungszentren usw.) vorgeschlagen werden kann und von Fachpersonen, insbesondere von speziell ausgebildeten Koordinator:innen, begleitet wird. Diese stehen der Familie zur Seite und schaffen etwa mit Informationen und Beratung die nötigen Voraussetzungen für eine gelingende Umsetzung. Insbesondere helfen sie mit, das familiäre Netzwerk zu erweitern. Dies ist ein Schlüsselfaktor im Verfahren, denn die Aktivierung von Ressourcen aus dem nahen Umfeld ist sehr wertvoll. Unter anderem kann es passgenaue Unterstützungen ermöglichen, die formelle Hilfesysteme vielleicht nicht erbringen können.

Stärkung der Kohärenz

Dazu zeichnet sich der Rat gemäss den Herausgeberinnen auch dadurch aus, dass er diversen Grundsätzen der Sozialen Arbeit gerecht wird. Neben Ermächtigung und Partizipation gehört dazu auch das Recht, selbstbestimmt auf eine persönliche Krisensituation reagieren zu dürfen. Wie Annette Dietrich, Pia Gabriel-Schärer und Anne Zimmermann sagen: «Es geht um mehr als reine Mitsprache: Der Familienrat befähigt die Familien und ihre Netzwerke, für sich Verantwortung zu übernehmen.»

«Es geht um mehr als um reine Mitsprache: Der Familienrat befähigt die Familien und ihre Netzwerke, für sich Verantwortung zu übernehmen.»

Annette Dietrich, Pia Gabriel-Schärer und Anne Zimmermann

Das setzt nachweislich Kräfte frei, oder wie Aaron Antonovsky, der Begründer der Salutogenese sagen würde, es stärkt das Kohärenzgefühl. Mit dem Familienrat lassen sich somit wesentliche Gelingensfaktoren der Kohärenz, wie die Handhabbarkeit oder Sinnhaftigkeit des Alltags wiederherstellen. Insbesondere die Erfahrung, so die Herausgeberinnen, dass das selbst Erarbeitete funktioniert, wirke sowohl beflügelnd als auch stabilisierend auf die Gemeinschaft. Enderlin bestätigt: «Der Familienrat macht es möglich, dass sich die Beteiligten als selbstwirksam erleben – eine Fähigkeit, die es in der Sozialen Arbeit zu erschliessen gilt.»

«Der Familienrat macht es möglich, dass sich die Beteiligten als selbstwirksam erleben – eine Fähigkeit, die es in der Sozialen Arbeit zu erschliessen gilt.»

Regula Enderlin, Co-Präsidentin Verein FamilienRat Schweiz

Was heisst das für die Soziale Arbeit?

Ohne Zweifel aber ändert der Familienrat das Professionsverständnis stark. Die Umkehr der Helferlogik braucht Mut und kann irritieren. Entsprechend reagierte die Praxis bisher oft auch eher zurückhaltend. In der Schweiz wird der Familienrat als Nischenangebot wahrgenommen, wenn man vom Kanton Glarus absieht, wo die Implementierung sehr weit fortgeschritten ist. Vielfach befürchtet man, die betroffenen Familien zu überfordern oder sieht die Finanzierungsfrage als Stolperstein. Nichtsdestotrotz machen die Untersuchungen auch deutlich, dass seitens Praxis ein grosses Interesse besteht sowie ein Bedürfnis nach Vernetzung.

Genau daran möchten sowohl das neue Buch als auch der nationale Verein FamilienRat Schweiz anknüpfen. Man will das Verfahren bekannter machen und dem Wunsch nach Austausch und kritischer Auseinandersetzung entsprechen. Schliesslich ist es wichtig, möglichst viel über neue Ansätze zu erfahren und vom Wissen anderer zu profitieren, um neue Wege gehen zu können.

Von: Anette Eldevik
Bild: Lambertus Verlag
Veröffentlicht: 8. März 2024

Familienrat/Family Group Conference – Starke Netzwerke für gemeinsame Lösungen

Das Buch Cover Buch Familienratentstand in Kooperation mit Praxisstellen, im Diskurs mit (inter-)nationalen Netzwerken, im Rahmen von Bachelor- und Master-Arbeiten und in einem Kooperationsprojekt der Fachhochschule St. Pölten in Österreich und der HSLU. Darin soll dem Bedürfnis nach Beispielen, nach praktischen Arbeitsmaterialien, nach fachlichem Austausch und kritischer Auseinandersetzung mit dem Vorgehen entsprochen werden. Das Buch ist im interact-Verlag erhältlich.

FamilienRat Schweiz

Alles über den Verein FamilienRat Schweiz ist hier zu erfahren.

Zu den Herausgeberinnen

Prof. Annette Dietrich
Die Dozentin und Projektleiterin ist u. a. Expertin für Erwachsenenbildung und Beratung, Familien- und schulergänzende Betreuung, Familienbildung, Begleitung von (Pflege-)Familien, Frühe Förderung sowie aufsuchende Familienarbeit. Sie ist Vorstandsmitglied im FamilienRat Schweiz.

Prof. Pia Gabriel-Schärer
Die Dozentin und Projektleiterin ist Vize-Direktorin der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit und leitet dort das Institut Sozialpädagogik und Bildung.
 
Anne Zimmermann
Die Dozentin und Projektleiterin ist Expertin für den Themenbereich Familienrat sowie für systemisch lösungsorientierte Beratung und die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien im Rahmen des freiwilligen und gesetzlichen Kindesschutzes. Sie ist Vorstandsmitglied im FamilienRat Schweiz.

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