3. Juni 2019
Von Dr. med. Thomas Knecht
Lange galt die Vorstellung, dass das Charakterbild des Weisskragenkriminellen weitgehend demjenigen des normalen Managers entspricht. Forensische Psychiatrie und Psychologie haben in den letzten Jahrzehnten jedoch Erkenntnisse gewonnen, welche ein ganz anderes Licht auf diese Straftäter werfen.
Die menschliche „Natur“ im Sinne einer Grundausstattung mit Verhaltenstendenzen entwickelte sich über die Jahrhunderttausende hinweg in ständiger Auseinandersetzung mit den jeweiligen Umgebungsverhältnissen. Diese waren bis vor einigen tausend Jahren durch das Leben in der überschaubaren steinzeitlichen Fortpflanzungsgemeinschaft geprägt, wobei diese max. 150 – 200 Mitglieder umfasste. Es darf nicht erstaunen, wenn einzelne dieser Verhaltenstendenzen in der heutigen Massengesellschaft mit ihren zunehmend anonymen Grossunternehmen zu intolerablen Exzessen, z. B. im Sinne der (verdeckten) Selbstbereicherung führen.
Narzissmus
Typische Wirtschaftsstraftaten gehen oft mit enormen Deliktsummen einher. Dieser Umstand lässt auf ein überhöhtes Anspruchsniveau bei den Anwärtern für solche Grossdelikte schliessen. Dies wiederum lässt vermuten, dass die Betreffenden zur Selbstüberschätzung neigen, welche u.U. bis zur Selbstvergötterung gehen kann. Damit ist ganz klar der Themenkreis „Narzissmus“ angesprochen, welcher ein weites Spektrum von Störungsschweregraden umfasst. Das Vollbild, nämlich die „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ wird im diagnostischen Manual ICD-10 anhand der folgenden 9 Kriterien charakterisiert (Dilling et al., 2000):
Auch wenn von diesen 9 Kriterien nur mindestens 5 erfüllt sein müssen, damit die Diagnose gestellt werden kann, fühlen sich Kenner der Materie oft spontan an diverse Akteure des gehobenen Wirtschaftslebens erinnert. Natürlich stellt sich auch die Frage, ob Jahreseinkommen im 7- bis 8-stelligen Bereich den Verdacht auf eine narzisstische Anomalie bereits nähren, selbst wenn damit kein offensichtlicher Gesetzesbruch verbunden ist. Da die Vergleichsmöglichkeit mit anderen top-ausgebildeten Spitzenkräften der Gesellschaft jedoch jederzeit gegeben ist, wäre diesen Überfliegern etwas Reflexion über den eigenen Nutzwert resp. die eigene Ersetzbarkeit sehr wohl zumutbar. Der oft vorgebrachte Hinweis, dass man sich hier in einem internationalen Markt bewege, wirkt auf Aussenstehende höchstens skurril.
Machiavellische Intelligenz
Hohe Ansprüche genügen nicht. Um sie umzusetzen, muss man erst in die Schlüsselposition mit den entsprechenden Machtbefugnissen resp. Zugriffsmöglichkeiten auf grosse Vermögenswerte gelangen. Diejenige Form der Sozialkompetenz, welche einen beschleunigten Aufstieg in Gruppen resp. Hierarchien ermöglicht, ist die sog. „Machiavellische Intelligenz“, welche schon bei höheren Tieren (insbesondere Schimpansen) vorkommt und mit der Schulintelligenz nur schwach korreliert ist (Knecht, 2004). Es handelt sich gleichsam um eine Urform der sozialen Intelligenz, deren Produkte nicht selten in einem moralisch-ethischen Widerspruch zu den christlich-humanistischen Werten unserer Zivilisation stehen. Wie der Name vermuten lässt, handelt es sich auch um die Schlüsselqualifikation des ruchlosen Machtpolitikers.
Psychologisch gesehen handelt es sich um die Fähigkeit, seinen Artgenossen zu durchschauen, seine Verhaltensbereitschaft zu manipulieren und ihn als „soziales Werkzeug“ im Interesse der eigenen Zielsetzungen zu instrumentalisieren. Diese manipulative Form der sozialen Intelligenz setzt diverse Teilfertigkeiten voraus: Man muss Strukturen, Beziehungen sowie Machtverhältnisse einer Gruppe durchschauen, potente Freunde gewinnen und starke Allianzen schmieden können, um seinen Aufstieg in der Gruppenhierarchie zu verwirklichen. Da die Konkurrenz bekanntlich nicht schläft, wird dabei auf Täuschungsmanöver kaum zu verzichten sein, so dass die verdeckte Agenda praktisch fester Bestandteil dieser Verhaltensstrategien ist. Personen, welche mit dieser sozialen Fertigkeit reich gesegnet sind, werden so kaum Mühe haben, ihren Einfluss auf soziale Prozesse auszuüben und sich ihren Platz an der Sonne zu sichern.
„Psychopathy“ (psychopathische Skrupellosigkeit)
„Psychopathie“ (zu Deutsch: Seelenleiden) war einmal synonymer Fachbegriff zur „Persönlichkeitsstörung“, hatte also noch nicht den herabsetzenden Akzent eines Schimpfwortes wie dies heute der Fall ist.
Der Begriff wurde jedoch in den USA der frühen 1940er-Jahre neu belebt, als H. Cleckley sein Werk „Mask of Sanity“ veröffentlichte. Der „Psychopath“ war nun eine klinisch weitgehend unauffällige Persönlichkeit, hinter deren wohlgefälliger Fassade sich eine Reihe von antisozialen Verhaltenstendenzen und moralischen Defekten verbarg. Gleichwohl stellte bereits Cleckley fest, dass diese Individuen in die höchsten gesellschaftlichen Ränge aufsteigen konnten, wo sie u. U. grosse Verheerungen anrichteten. Der Kanadier Robert D. Hare erfasste solche Charaktere in der Folge systematisch und beschrieb ihr Profil ausführlich, was letztlich im Diagnose- und Prognoseinstrument „Psychopathy Checklist-Revised“ seinen Niederschlag fand (Hare, 1993). Als Kerneigenschaften des „Psychopaths“ erwiesen sich Züge wie Empathie- und Reuelosigkeit, Impulsivität, Manipulativität, Reizhunger, oberflächliche Selbstdarstellung, Grandiosität u.a. Damit wird deutlich, dass das klassische Profil des „Psychopaths“ im Sinne von Hare neben narzisstischen und machiavellistischen Wesenszügen vor allem den Faktor Skrupellosigkeit beinhaltet, welcher befriedigend erklären kann, weshalb diese Individuen die Grenzen des Erlaubten prompt überschreiten, wenn sie sich erst in der entsprechenden Vertrauensposition etabliert haben. Die Forschung hat mittlerweile gezeigt, dass diese Formen der Gemütskälte mit zahlreichen Normabweichungen im Bereiche der neuropsychologischen Funktionen, der Aktivitätsmuster im Hirnscan und sogar mit gewissen (diskreten) neuroanatomischen Anomalien assoziiert ist. Die geringe Behandelbarkeit, die vom forensischen Psychotherapeuten immer wieder festgestellt wird, scheint hier also eine handfeste, in der Hirnstruktur verankerte Grundlage zu haben.
Fazit
Angesichts dieser fortgeschrittenen Erkenntnislage sollte es grundsätzlich möglich sein, Weisskragentäter aufgrund ihres Persönlichkeitsprofils aus einem Kandidatenfeld herauszufiltern, bevor sie ihren Aufstieg in die Schlüsselpositionen geschafft haben, wo dann der skrupellosen Selbstbereicherung nichts mehr im Wege steht. Einzelne Assessment-Tools wie der B-Scan 360 von Babiak und Hare sind bereits im Rahmen von kontrollierten Studien zur Anwendung gekommen, gehören indessen noch nicht zum festen Instrumentarium der zuständigen Wahlgremien. Es wäre indessen bereits als grosser Fortschritt zu werten, wenn die oben aufgeführten psychologischen Erkenntnisse über die Persönlichkeitsstruktur von Wirtschaftskriminellen bei den Verantwortlichen für Stellenbesetzung besser verankert wären und in den Auswahlverfahren für Kaderpositionen vermehrt nutzbar gemacht würden.
[infobox]Quellen: • Paulhus D.L., Williams K.M.: The dark triad of personality: Narcissism, Machiaviellianism and Psychopathy J Res Pers 2002, 36, 556-563 • Dilling H., Mombour W., Schmidt M.H.: Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 • Huber, Bern 2000, S.324 • Knecht T.: Was ist machiavellische Intelligenz? – Betrachtungen über eine wenig beachtete Seite unserer Psyche Nervenarzt 2004, 75, 1-5 • Hare R.D.: Without conscience – The disturbing world of psychopaths among us Guilford, New York 1993 [/infobox]
Kommentare
0 Kommentare
Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.