25. September 2023

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(Macht-)Stellung der Privatklägerschaft im abgekürzten Verfahren?

(Macht-)Stellung der Privatklägerschaft im abgekürzten Verfahren?

Von Adam El-Hakim und Vivien Altwegg

Die geständige beschuldigte Person kann im abgekürzten Verfahren mit der Staatsanwaltschaft einen «Deal» verhandeln. Die Privatklägerschaft ist grundsätzlich befugt, diese Absprache grundlos abzulehnen, womit ihre Stellung im abgekürzten Verfahren gestärkt wird. Diese «Machtstellung» kann ausgehebelt werden, wenn der «Deal» vor Gericht neu verhandelt wird.

Das abgekürzte Verfahren zeichnet sich durch Absprachen, sogenannte «Deals», zwischen der Staatsanwaltschaft und der beschuldigten Person aus. Das Urteil basiert somit nicht nur auf den Ergebnissen der Strafuntersuchung, sondern schwergewichtig auf dem Geständnis der beschuldigten Person und den Abspracheverhandlungen. Das abgekürzte Verfahren ermöglicht durch Auslassung gewisser Verfahrensschritte eine vereinfachte und beschleunigte Verfahrenserledigung und dient somit in erster Linie der Verfahren­sökonomie und der Entlastung der Strafverfolgungsbehörden. Für die beschuldigte Person wird der Verfahrensausgang ausserdem berechenbarer. Gerade im Bereich der Wirtschaftskriminalität mit typischerweise komplizierten Sachverhalten und umfangreichem Beweismaterial kann ein Bedürfnis nach Absprachen bestehen und die rasche, erleichterte Verfahrenserledigung durch das abgekürzte Verfahren von Vorteil sein.

Ablauf des abgekürzten Verfahrens

Eingeleitet wird das abgekürzte Verfahren durch einen entsprechenden Antrag der (geständigen) beschuldigten Person bei der Staatsanwaltschaft. Diese heisst den Antrag in der Regel gut, wenn der Antrag vor Anklageerhebung vorliegt,  die beschuldigte Person den relevanten Sachverhalt eingesteht sowie allfällige Zivilansprüche der Privatklägerschaft zumindest im Grundsatz nach anerkennt und die Staatsanwaltschaft keine Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren verlangt. Bei Gutheissung setzt die Staatsanwaltschaft der Privatklägerschaft eine Frist von zehn Tagen an, um allfällige Zivilansprüche und Entschädigungs­forderungen anzumelden. Es folgt das eigentliche Herzstück des abgekürzten Verfahrens: Die Abspracheverhandlungen zwischen der Staatsanwaltschaft und der beschuldigten Person. Denkbar sind Verhandlungen über die Art und Anzahl der anzuklagenden Straftaten («charge bargaining»), das Strafmass («sentence bargaining») oder gar den Sachverhalt («fact bargaining»), wobei letzteres tendenziell als unzulässig erachtet wird. Basierend auf den Verhandlungsergebnissen verfasst die Staatsanwaltschaft im Sinne eines «Urteilvorschlags» eine Anklageschrift, die insbesondere das Strafmass und die Zivilforderungen regelt. Die beschuldigte Person und die Privatklägerschaft haben danach zehn Tage Zeit, um der Anklageschrift (unwiderruflich) zuzustimmen oder diese abzulehnen. Eine Begründung ist nicht erforderlich.

Sind die Parteien einverstanden, übermittelt die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift zur Genehmigung ans Gericht. An der Hauptverhandlung werden die Parteien befragt. Anders als im ordentlichen Verfahren findet jedoch kein Beweisverfahren statt. Das Gericht genehmigt die Anklageschrift, sofern die Durchführung des abgekürzten Verfahrens rechtmässig und angebracht ist, die Anklage mit dem Ergebnis der Hauptverhandlung und den Akten übereinstimmt und das beantragte Strafmass angemessen ist. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, weist das Gericht die Akten an die Staatsanwaltschaft zur Durchführung eines ordentlichen Verfahrens zurück. Die Anfechtungs­möglichkeiten der Parteien sind beschränkt: Sie können lediglich geltend machen, dass sie der Anklageschrift nicht zugestimmt haben oder dass das Urteil nicht der Anklageschrift entspricht.

«Machtstellung» der Privatklägerschaft im Vorverfahren

Die Privatklägerschaft ist an den Abspracheverhandlungen nicht beteiligt. Ihr kommt allerdings eine besondere «Machtstellung» zu, da der Erfolg des abgekürzten Verfahrens von ihrer Zustimmung zur Anklageschrift abhängt. Dieses Zustimmungserfordernis kann sie im Sinne eines «Veto-Rechts» als Verhandlungsposition nutzen, um die beschuldigte Person zur Annahme ihrer Zivilforderungen zu motivieren oder gar zu drängen. Da die Privatklägerschaft eine Ablehnung der Anklageschrift nicht begründen muss, lässt sich auch nicht überprüfen, weshalb die Privatklägerschaft ihre Zustimmung verweigerte. Somit ist es ihr theoretisch möglich, die Anklageschrift nicht wegen der Regelung der Zivilforderungen, sondern aufgrund der Schuldfrage oder gar der vereinbarten Strafe abzulehnen, was im ordentlichen Verfahren ausgeschlossen ist.

 Zulässigkeit von «Nachverhandlungen» im Haupt­verfahren

Umstritten ist, ob das Gericht und die beschuldigte Person anlässlich der Hauptverhandlung den Inhalt der Anklageschrift des abgekürzten Verfahrens neu verhandeln dürfen und inwiefern dabei eine erneute Zustimmung der Privatklägerschaft erforderlich ist.

Das Bundesstrafgericht lässt eine Abänderung der Anklage im Schuld-, Straf- oder Zivilpunkt anlässlich der Hauptverhandlung aus verfahrensökonomischen Gründen grundsätzlich zu. Der Privatklägerschaft wird allerdings kein «Veto-Recht» (mehr) gewährt, wenn die Anklageschrift im Schuld- oder Strafpunkt abgeändert wird. Das Bundesstrafgericht tendiert sogar dazu, die Zustimmung der Privatklägerschaft nur dann einzuholen, wenn die Änderungen bei der Durchsetzung ihrer Zivil­forderungen einen Rechtsnachteil zur Folge haben.

Solche gerichtlichen «Nachverhandlungen» sind problematisch. Sie laufen einerseits dem Gesetzeswortlaut zuwider, wonach das Gericht die Anklageschrift entweder genehmigt oder ablehnt, denn eine richterliche Abänderung der Anklageschrift ist nicht vorgesehen. Andererseits wird das umfassende «Veto-Recht» der Privatklägerschaft, das sie im Vorverfahren noch hatte, im Hauptverfahren plötzlich ausgehebelt, wenn das Zustimmungserfordernis auf (rechtsnachteilige) Zivilforderungen beschränkt wird. Darüber hinaus fehlt es der Privatklägerschaft, wie auch der beschuldigten Person, an einer gesetzlich geregelten Bedenkzeit, die die Parteien vor einer übereilten Zustimmung oder Ablehnung der gerichtlichen Absprache schützen würde. Zudem bleibt unklar, wie eine gerichtliche Absprache inhaltlich überprüft werden soll, zumal die Rechtsmittelmöglichkeiten im abgekürzten Verfahren stark eingeschränkt sind. Schliesslich ist ohnehin schon bedenklich, dass die Staatsanwaltschaft im abgekürzten Verfahren die Richterrolle übernimmt, indem sie den «Urteilsvorschlag» verfasst. Gesteht man dem Gericht auch noch zu, als «Verhandlungs­partner» auf die Anklageschrift Einfluss zu nehmen, würde dies zu einer Durchmischung der Kompetenzen der Strafbehörden führen.

Gerichtliche Absprachen können nach der hier vertretenen Auffassung nur dann als zulässig erachtet werden, wenn die Parteirechte der Privatklägerschaft und der beschuldigten Person sichergestellt werden. Insbesondere ist den Parteien – anlog zum Vorverfahren – eine Bedenkfrist von zehn Tagen zu gewähren und in jedem Fall die erneute Zustimmung der Privatklägerschaft einzuholen, sobald die Änderungen ihre Zivilforderungen betreffen. Nur so kann eine Aushebelung der vom Gesetzgeber gewollten Stellung der Privatklägerschaft verhindert werden.

Autor: Adam El-Hakim

Adam El-Hakim studierte an der Universität Basel (MLaw) und am University College London (LL.M.). Er promovierte zum Thema „Mitbeschuldigte im abgekürzten Verfahren“ (Dr. iur., Gadient Engi Stipendiat) und ist seit 2014 als Rechtsanwalt zugelassen. Adam El-Hakim arbeitet als Counsel für Wirtschaftsstrafrecht bei LALIVE SA in Zürich. Er ist zudem Mitbegründer des Netzwerks Privatklägerschaft NPK, einem auf die strafprozessuale Vertretung von Geschädigten spezialisiertes Netzwerk für PraktikerInnen.

Autorin: Vivien Altwegg

Vivien Altwegg studierte an der Universität St. Gallen und an der Universität Bern (MLaw). Sie arbeitete als Juristin bei der Direktion für Völkerrecht des EDA und als Substitutin bei LALIVE SA in Zürich. Zurzeit ist sie beim Obergericht des Kantons Aargau tätig.

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