5. Dezember 2022

Financial Crime

Die Wirecard-Saga: Aufstieg und Fall von Europas grösstem Fintech-Unternehmen

Die Wirecard-Saga: Aufstieg und Fall von Europas grösstem Fintech-Unternehmen

Von Michael Dietrich und Lorena Studer

Was steckt hinter dem markanten Aufstieg und dem abrupten Niedergang von Wirecard? Diesen Fragen gingen Betrugsermittlerinnen und -ermittler, sogenannte Certified Fraud Examiner (CFE), sowie weitere Interessentinnen und Interessenten im Workshop «The Wirecard Fraud – Simulation-Experience» des Switzerland Chapters der Association of Certified Fraud Examiners (ACFE) auf den Grund.

Bei Wirecard fand eine «Bilanzmanipulation der Superlative» statt, wovon sich die Teilnehmenden des Workshops überzeugen konnten. Unter der Anleitung von Dan McCrum, Investigative Journalist bei der Financial Times, und Prof. Dr. Katja Langenbucher, House of Finance der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, durchliefen die Teilnehmenden den Aufstieg und den Fall von Wirecard in drei Phasen. Berücksichtigt wurden dabei insbesondere die Sichtweisen der Stakeholder, das heisst der Öffentlichkeit, der Investoren und der Aktionäre, sowie der Revision und der Aufsicht.

«Ich wollte unbedingt an der Veranstaltung teilnehmen und die Geschichte von Dan McCrum live und persönlich hören. Mir gefiel das Format mit den Workshops, das uns viel Interaktion mit den beiden Referenten ermöglichte» erklärt Dejan Jasnic, Trusty AG. Sven Millischer, Head of Open Source Intelligence bei AC Assets Control AG, merkt an «Es war eine faszinierende Erfahrung, in die Welt des Wirecard-Falls eintauchen zu können».

Phase 1: Aufstieg und Enthüllung

In einer ersten Phase widmeten sich die Teilnehmenden dem Aufstieg von Wirecard seit der Gründung im Jahr 1999 bis zum ersten Bericht in der Financial Times zwanzig Jahre später. Wirecard begann als Zahlungsdienstleister, expandierte und stieg einige Jahre später ins Bankengeschäft ein. Bereits in den ersten Jahren gab es Hinweise auf Irregularitäten bei den Jahreszahlen, welche jedoch das mit der Sonderprüfung beauftragte und spätere Revisionsunternehmen nicht bestätigte. 2010 trat der bisher als Projektmanager tätige Jan Marsalek seine Funktion als Chief Operating Officer (COO) an und mit ihm folgte ein rasantes Wachstum des Unternehmens durch Zukäufe von Zahlungsunternehmen in Asien. So gross der Erfolg nach aussen schien, im Inneren brodelte es. Nachdem ein Hinweis eines internen Whistleblowers eingegangen war, kam es im März 2018 in Singapur zu einer internen Untersuchung. Die Informationen darüber wurden jedoch unterdrückt und Wirecard trat im September 2018 den prestigeträchtigen Börsengang an – das Unternehmen galt als das Grösste im Bereich der Finanztechnologie (Fintech) in Europa. Nachdem ein Whistleblower im Oktober 2018 die Financial Times darüber unterrichtet hatte, dass die interne Untersuchung in Singapur unterdrückt wurde, veröffentlichte diese im Januar 2019 ihren ersten Bericht darüber.

Auf der Basis dieser Ausgangslage diskutierten die Teilnehmenden in Gruppen, welche Handlungsalternativen die Stakeholder in dieser ersten Phase gehabt hätten. Wie hätten sie an Informationen gelangen können und wie weit darf man in einer solchen Situation überhaupt gehen? Neben den Stakeholdern kamen der Revisionsstelle und der Aufsichtsbehörde zentrale Rollen zu. Welche speziellen Pflichten haben diese bei «neuen Geschäftsideen» oder bei komplexen Geschäftsstrukturen? Gibt es so etwas wie eine Interventionspflicht und wie ist mit Informationen umzugehen, die aus Presseberichten stammen?

Phase 2: Gegenreaktionen von Wirecard

Wirecard leugnete alles und bekämpfte die Enthüllungen in der Financial Times. Das brachte auch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) auf den Plan, welche zu Beginn des Jahres 2019 gegen die Financial Times eine Untersuchung wegen Marktmanipulation durchführte und das Short-Selling, das heisst die Leerverkäufe von Wirecard-Aktien, verbot. Die Financial Times liess mit ihrer Berichterstattung nicht locker und enthüllte im März 2019, dass die Hälfte des Wirecard-Geschäfts durch Partner in den Philippinen abgewickelt wurde, die jedoch vor Ort nicht anzutreffen waren. Am 28. März 2019 reichte Wirecard Klage gegen die Financial Times ein. Wirecard benötigte Geld und wollte im April 2019 mit einer Finanzspritze von 900 Millionen Euro von der SoftBank das Vertrauen der Stakeholder wieder herstellen. Derweil publizierte die Financial Times weitere Details über die ausgelagerte Zahlungsabwicklung von Wirecard. Nachdem die Revisionsgesellschaft den Jahresbericht 2018 genehmigt hatte, starte Wirecard erneut eine Investitionsrunde – mittlerweile war es September 2019.

Die Fragerunde im Plenum befasste sich unter anderem mit dem Umgang mit langen Untersuchungsdauern und der Frage, wie und wie lange es ohne die Berichterstattung durch die Financial Times mit Wirecard wohl weitergegangen wäre.

Phase 3: Untersuchung und Niedergang

Im Oktober 2019 berichtete die Financial Times, dass es Indizien dafür gibt, dass die Bilanz von Wirecard aufgebläht wurde. Daraufhin beauftragte Wirecard ein weiteres Beratungsunternehmen mit der Durchführung einer unabhängigen Untersuchung. Die Untersuchung gestaltete sich nicht einfach und die Publikation des Sonderberichts musste verschoben werden, bis er schliesslich am 28. April 2020 veröffentlicht wurde. Brisant war, dass Wirecard dem Prüfer anscheinend nicht genügend Unterlagen zur Verfügung gestellt, beziehungsweise den Informationsfluss kontrolliert hatte, um alle Anschuldigungen der Financial Times abklären zu können. Nun ging es Schlag auf Schlag. Die BaFin reichte Strafanzeige gegen den Verwaltungsrat von Wirecard ein und die Polizei durchsuchte am 5. Juni 2020 die Geschäftsbüros. Die Revisionsstelle verschob zum wiederholten Mal die Publikation des Revisionsberichts 2019 und verweigerte schliesslich die Unterzeichnung, da die Existenz von 1.9 Milliarden Euro, beziehungsweise einem Viertel der Bilanzsumme nicht bestätigt werden konnte. Am 19. Juni 2020 trat der Chief Executive Officer (CEO) Markus Braun zurück. Ein paar Tage später wurde er verhaftet, nachdem Wirecard zugegeben hatte, dass die 1.9 Milliarden Euro wahrscheinlich nie existiert haben. Am 25. Juni 2020 kündigte Wirecard schliesslich Insolvenz an.

Unter den Teilnehmenden entbrannte eine rege Diskussion über die Frage, welche Lehren die Stakeholder, die Revision und die Aufsicht aus dem Fall ziehen können und müssen und wie die Verantwortung der Revisionsstelle aussieht. Wer hätte zu welchem Zeitpunkt was erkennen können? Wurde bereits etwas davon umgesetzt, wo besteht noch dringender Handlungsbedarf? Die Diskussionen gingen beim anschliessenden gemeinsamen Apéro angeregt weiter.

Autor: Michael Dietrich

Michael Dietrich ist Inhaber von Nodon, einer Beratungsboutique für Wirtschaftsforensik. Seit über 25 Jahren unterstützt er Organisationen bei der Erkennung, Aufarbeitung und Verhinderung von Compliance-Verstössen und wirtschaftskriminellen Aktivitäten. Er ist im Fachrat des Weiterbildungslehrgangs MAS/DAS Economic Crime Investigation der Hochschule Luzern und doziert an verschiedenen Ausbildungsinstitutionen in der Schweiz. Im Weiteren ist er Präsident des Switzerland Chapters der Association of Certified Fraud Examiners ACFE, des weltgrössten Verbands von Experten zur Betrugs- und Korruptionsbekämpfung.

Autorin: Lorena Studer

Lorena Studer ist Rechtsanwältin bei Walder Wyss und im Team Prozessführung und Schiedsgerichtsbarkeit auf die Prozessführung in Zivil- und Strafsachen spezialisiert. Sie hat die Weiterbildung CAS Cyber Investigation & Digital Forensics absolviert und wirkt als Director Communications und Vorstandsmitglied beim Switzerland Chapter der Association of Certified Fraud Examiners ACFE.

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