27. Juni 2022

Allgemein

Die Vertretung des Unternehmens im Strafprozess

Die Vertretung des Unternehmens im Strafprozess

Von Dr. Daniel L. Bühr, Dr. Adam El-Hakim und Tabea T. Segessenmann

Seit rund 20 Jahren können in der Schweiz auch Unternehmen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Ihnen kommen grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten zu wie einer natürlichen Person. Diese Rechte und Pflichten übt im Strafverfahren eine natürliche Person, die Unternehmensvertretung, aus.

Das Unternehmen kann im Strafverfahren entweder beschuldigte Person sein oder als Privatklägerin auftreten, sofern es durch strafbare Handlungen einen unmittelbaren Schaden erlitten hat. Dem Unternehmen kommen grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten zu wie einer natürlichen Person. Da Unternehmen diese Rechte und Pflichten aber naturgemäss nicht selbst ausüben können, muss im Strafverfahren eine natürliche Person als Unternehmensvertretung bezeichnet werden. Diese personifiziert das Unternehmen, übt die prozessualen Rechte des Unternehmens aus und wahrt die Interessen des Unternehmens im Strafprozess.

Auswahl und Wechsel der Unternehmensvertretung

Das Unternehmen kann grundsätzlich selbst bestimmen, durch welche Person es vertreten werden soll. Diese muss allerdings uneingeschränkt zur Vertretung in zivilrechtlichen Angelegenheiten bevollmächtigt sein. Häufig übernehmen Mitarbeitende mit Organfunktion diese Rolle. Bei einer Aktiengesellschaft können dies die Mitglieder des Verwaltungsrats oder der Geschäftsleitung sein. Bei einfachen Gesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder Kollektivgesellschaften die geschäftsführenden Gesellschafter.

Zentral für die wirkungsvolle Vertretung des Unternehmens ist die Vertrautheit mit der Organisation, den Prozessen und der Kultur des Unternehmens. Je besser die Unternehmensvertretung mit dem Unternehmen vertraut ist, desto wirkungsvoller kann sie ihre Aufgabe wahrnehmen.

Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, spätestens bei der Eröffnung der Untersuchung eine angemessene Frist zur Einsetzung einer Unternehmensvertretung anzusetzen. Kommt das Unternehmen dieser Aufforderung nicht nach, wird die Verfahrensleitung eine Vertretung bestimmen. Das Unternehmen ist grundsätzlich berechtigt, seine Unternehmensvertretung jederzeit abzuberufen. Da dadurch das Verfahren verzögert werden kann, findet hier die Schranke des Rechtsmissbrauchs Anwendung.

Es kann vorkommen, dass sich im Lauf des Strafverfahrens wegen des gleichen oder eines damit zusammenhängenden Sachverhalts auch ein Tatverdacht gegen die Unternehmensvertretung ergibt. In diesem Fall hat das Unternehmen eine andere Vertretung zu bezeichnen, da ansonsten ein Interessenskonflikt vorliegen könnte. Vereinfacht ausgedrückt, muss die Unternehmensvertretung bezüglich der Strafuntersuchung eine „weisse Weste“ haben.

Rechte und Pflichten

Nur das Unternehmen und nicht seine Vertretung ist Verfahrenssubjekt. In der Rolle als „Quasi-Beschuldigte/r“ übt die Unternehmensvertretung für das Unternehmen dieselben Rechte und Pflichten aus wie eine natürliche Person. Dazu gehört unter anderem das Recht auf Gewährung des rechtlichen Gehörs. Die Unternehmensvertretung kann beispielsweise bei Beweiserhebungen durch die Verfahrensleitung anwesend sein und einvernommenen Personen Fragen stellen. Sie kann zudem Rechtsmittel ergreifen.

Die Unternehmensvertretung ist berechtigt, die Aussage zu verweigern. Dasselbe gilt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die direkt und persönlich mit der Vertretung zusammenarbeiten, da ansonsten das Aussageverweigerungsrecht wirkungslos bliebe. Ferner ist die Unternehmensvertretung beispielsweise befugt, den dem strafrechtlichen Vorwurf zugrunde liegenden Sachverhalt einzugestehen, die Durchführung des abgekürzten Verfahrens zu beantragen oder in einem Strafbefehlsverfahren den Strafbefehl zu akzeptieren oder dagegen Einsprache zu erheben.

Zwangsmassnahmen gegen die Unternehmensvertretung selbst sind grundsätzlich nicht zulässig. Die Unternehmensvertretung ist jedoch verpflichtet, Verfügungen entgegenzunehmen. Unklar ist die Frage, ob es zulässig ist, die Vertretung vorzuführen, wenn sie einer Vorladung nicht Folge leistet. Dafür spricht, dass im Strafverfahren nicht nur die beschuldigte Person selbst, sondern auch Zeugen oder Auskunftspersonen, die einer Vorladung nicht Folge leisten, vorgeführt werden können.

Fazit

Unternehmen können in einem Strafprozess beschuldigte Person sein. Die Unternehmensvertretung, typischerweise ein Organmitglied, vertritt das Unternehmen in einer „Quasi-Beschuldigtenstellung“. Um die Interessen des Unternehmens im Strafprozess rechtmässig und wirkungsvoll wahrnehmen zu können, sind bei der Auswahl und Instruktion der Unternehmensvertretung zu Beginn des Strafverfahrens materielle und prozessuale Anforderungen zu beachten, insbesondere die Vertretungsmacht, die Kenntnis des Unternehmens und die „weisse Weste“.

Autor: Daniel Lucien Bühr

Daniel Lucien Bühr ist Berner Fürsprecher (1993) und MBA (Columbia University, New York, und London Business School; 2004). Er ist Partner bei LALIVE und spezialisiert auf Prozessführung sowie Risiko- und Compliance Management. Er ist Co-Leiter des Normenkomitees 207 – Governance of Organisations der Schweizerischen Normenvereinigung und Mitglied der Expertenkommissionen der Internationalen Organisation für Standardisierung ISO für Compliance-Managementsysteme und für Governance of Organisations. Er ist Co-Gründer und Honorary Chairman von Ethics and Compliance Switzerland (www.ethics-compliance.ch).

Autor: Adam El-Hakim

Adam El-Hakim studierte an der Universität Basel (BLaw, MLaw) und am University College London (LL.M., Gadient Engi Stipendiat). Er promovierte zum Thema „Mitbeschuldigte im abgekürzten Verfahren gem. Art. 358 ff. der Strafprozessordnung“ (Dr. iur., Gadient Engi Stipendiat). Im Jahr 2014 erlangte er sein Anwaltspatent und arbeitete seither u.a. als Assistenz-Staatsanwalt des Bundes bei der Bundesanwaltschaft (Abteilung Wirtschaftsdelikte). Er ist seit 2019 bei LALIVE und auf Wirtschaftsstrafrecht, internationale Rechtshilfe, interne Untersuchungen und Compliance spezialisiert. Adam El-Hakim publiziert regelmässig zu aktuellen Fragestellungen des Strafrechts. Er ist zudem Mitbegründer des Netzwerks Privatklägerschaft NPK, einem auf die strafprozessuale Vertretung von Geschädigten spezialisiertes Netzwerk für PraktikerInnen.

Autorin: Tabea Tsering Segessenmann

Tabea Tsering Segessenmann hat 2013 ihr Anwaltspatent erlangt und war mehrere Jahre als Gerichtsschreiberin an der Strafabteilung des Obergerichts des Kantons Bern tätig. Während ihrer Tätigkeit in der Berner Justiz hat sie zudem einen Einsatz als a.o. Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland absolviert. Seit 2020 ist sie Rechtsanwältin bei LALIVE und im Bereich Wirtschaftsstrafrecht, Compliance, internationale Rechtshilfe und interne Untersuchungen tätig. Tabea Tsering Segessenmann hat ihr Studium der Rechtswissenschaften (Bachelor of Law, Master of Law) an der Universität Bern abgeschlossen (2010). Sie verfügt zudem über ein Certificate of Advanced Studies in Forensics von der Universität Luzern (2017).

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