19. Mai 2025

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Cybercrime

Künstliche Intelligenz als Gamechanger im Kampf gegen Wirtschaftskriminalität

Künstliche Intelligenz als Gamechanger im Kampf gegen Wirtschaftskriminalität

Von Carole Aubert

Künstliche Intelligenz ermöglicht es, Risiken frühzeitig zu erkennen, Datenmengen effizient zu analysieren und Bedrohungen proaktiv anzugehen. Gleichzeitig nutzen auch Kriminelle KI-Technologien, um ihre Aktivitäten zu verschleiern und neue Angriffsmethoden zu entwickeln. Inwiefern verändert KI die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität?

Der Kampf gegen Betrug und Fälschung erreicht durch künstliche Intelligenz eine neue Dimension. Klassische Ermittlungsarbeit wandelt sich – moderne Technologien können verdächtige Aktivitäten frühzeitig erkennen, drohende Gefahren vorausahnen und riesige Datenmengen auswerten, die früher nicht zu bewältigen waren.

Die Bekämpfung von Fälschungen ist ein besonders interessantes Beispiel. Zwischen den Jahren 2020 und 2024 haben sich die Beschlagnahmungen von gefälschten Artikeln in Europa laut der Europäischen Kommission mehr als vervierfacht: 2024 gelangten etwa 4,6 Milliarden Sendungen mit geringem Wert (bis zu 150 Euro) auf den EU-Markt. Dies entspricht etwa 12 Millionen Paketen (!), die täglich in die EU gelangen – darunter ein wachsender Anteil an gefälschten Artikeln.

Dieses Phänomen wird durch den Boom des Online-Handels aus China und die grosse Zahl an Kleinsendungen noch verstärkt – und bringt die herkömmlichen Methoden zur Aufdeckung und Bekämpfung an ihre Grenzen. Heute kann ein gefälschtes Produkt unbemerkt die Grenzen überqueren, indem es in Sekundenschnelle auf einer Online-Plattform bestellt, in einer neutralen Verpackung geliefert und inmitten von Tausenden anderer Artikel versteckt wird, die jeden Tag über die Grenzen kommen, auch in die Schweiz. Der enorme Zustrom überfordert die klassischen, hauptsächlich menschlichen Analysemethoden.

KI als Verbündete gegen Wirtschaftsbetrug

Im Zusammenhang mit Wirtschaftsbetrug kann künstliche Intelligenz positiv genutzt werden, um die bestehenden Bekämpfungsmassnahmen zu verstärken. Ihre Anwendungen sind vielfältig: Maschinelles Lernen zur Identifizierung verdächtigen Kaufverhaltens, Bilderkennung zur Authentifizierung von Produkten, prädiktive Algorithmen, um Pakete zu identifizieren, die kontrolliert werden müssen. KI ermöglicht es heute Zollbeamten, Ermittlern und Inhabern geistiger Eigentumsrechte, ihre Aktionen zu lenken und Anomalien zu entdecken, die ein Mensch allein aufgrund der Fülle der verfügbaren Informationen übersehen hätte. Zum Beispiel sind EAD-Daten (Early Advance Data) wertvolle Informationen, die vor der physischen Ankunft der Sendungen verfügbar sind (detaillierte Beschreibung der Waren, Absender, Empfänger und Routen der Pakete), die von den Zollbehörden bei ihrer Risikoanalyse genutzt werden können.

Für die Schweizer Uhrenindustrie, die besonders stark von Fälschungen betroffen ist, werden KI-basierte Tools eine verbesserte Produktauthentifizierung ermöglichen, indem sie zum Beispiel eine Uhr in Sekundenschnelle anhand von Details analysieren, die auf einem Smartphone-Foto mit blossem Auge nicht zu erkennen sind – wie z.B. Unregelmässigkeiten in der Gravur oder die Signatur eines Uhrwerks. Im Internet integrieren Verkaufsplattformen oder soziale Netzwerke zunehmend KI, um verdächtige Verkäufe und Wiederholungstäter (high value targets) zu identifizieren, Angebote für gefälschte Produkte in Echtzeit zu erkennen und so schnell wie möglich zu blockieren. Beispiele hierfür sind die Erkennung von verschwommenen Marken oder Logos oder die semantische Analyse von Textbeschreibungen, um Begriffe oder Muster zu erkennen, die mit Fälschungen in Verbindung gebracht werden (z. B. mehrdeutige Beschreibungen, Rechtschreibfehler oder Trunkierungen). Der Verband der Schweizer Uhrenindustrie FH verfügt über eine Datenbank mit Bildern von mehreren Millionen gefälschter Produkte, die aus der Erkennung während der Internetüberwachung stammen. Er entwickelt derzeit Werkzeuge, um gefälschte Produkte online auf dieser Grundlage zu erkennen (maschinelles Lernen). Die gleichen Prinzipien werden übrigens bereits bei der Bekämpfung von Geldwäscherei, Steuerhinterziehung und Korruption eingesetzt.

Ein technologischer Wettlauf zwischen Betrügern und Ermittlern

KI hilft allerdings nicht nur dabei, Wirtschaftskriminalität zu bekämpfen – sie wird auch von Kriminellen rege genutzt. Die automatische Generierung gefälschter Dokumente, die Erstellung gefälschter E-Commerce-Websites in nur wenigen Minuten, die Verwendung fortschrittlicher Anonymisierungstechniken – Fälscher und Betrüger nutzen dieselben digitalen Werkzeuge, um Kontrollen zu umgehen und ihre Spuren zu verwischen. Der Kampf gegen sie ist ein Wettlauf der Technologien – wer nicht ständig weiterentwickelt, bleibt zurück. Laut dem letzten EU SOCTA Bericht vom März 2025 dient KI als Katalysator für neue Formen der Kriminalität: generative Werkzeuge zur Erstellung von Video- oder Audio-Deepfakes, ausgeklügelte Phishing-Kampagnen in mehreren Sprachen, Generierung von Malware und sogar von synthetischen kinderpornografischen Inhalten. Im Finanzbereich erleichtert die KI die Geldwäscherei durch Kryptowährungen und dezentralisierte Systeme. Andererseits wirkt sie als Effizienzmultiplikator für kriminelle Netzwerke: Durch Automatisierung werden Cyberangriffe schneller, zahlreicher und gezielter, während Algorithmen dabei helfen, Sicherheitsmassnahmen zu umgehen.

Ein neues Paradigma zum Schutz der Wirtschaft

Eine grundlegende Änderung der Bekämpfungsstrategien ist nötig. Die KI beschränkt sich nicht darauf, die Aufdeckung zu erleichtern. Sie ermöglicht es, von einem reaktiven Ansatz zu einer prädiktiven Logik überzugehen: Risiken identifizieren, bevor eine Straftat begangen wird, verdächtige Finanzströme blockieren, bevor sie recycelt werden, Kampagnen zum Verkauf von Fälschungen neutralisieren, sobald sie entstehen. Die Verlagerung des Schwerpunkts auf die Prävention erfordert nicht nur leistungsfähige Werkzeuge, sondern auch neue Kompetenzen, eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Behörden, Rechteinhabern und digitalen Plattformen sowie eine strenge ethische Governance.

Die Produktfälschung, die die Wirtschaft weltweit tiefgreifend beeinflusst, ist ein gutes Beispiel für diesen Wandel. Die Lehren lassen sich jedoch auf die gesamte Wirtschaftskriminalität übertragen. In einer zunehmend digitalisierten Welt, in der Finanz- und Handelsströme immer schneller und ausserhalb der traditionellen Kanäle abgewickelt werden, können nur die Akteure, die in der Lage sind, KI auf intelligente und verantwortungsvolle Weise zu integrieren, die Integrität der Märkte wahren und Verbraucher, Unternehmen und die staatliche Justiz schützen.

Künstliche Intelligenz als Gamechanger im Kampf gegen Wirtschaftskriminalität

Künstliche Intelligenz ist sicherlich kein Wundermittel. Wenn sie jedoch richtig eingesetzt wird, kann sie massgeblich dazu beitragen, das Kräfteverhältnis gegenüber immer raffinierteren kriminellen Organisationen wiederherzustellen. Durch Investitionen in Daten, Ausbildung, Ethik und übergreifende Zusammenarbeit kann die KI zu einer dauerhaften Verbündeten im Kampf gegen alle Formen der Wirtschaftskriminalität werden – ein Gamechanger.

Autorin: Carole Aubert

Carole Aubert ist Schweizer Anwältin und Expertin für digitale Technologien, geistiges Eigentum und die Bekämpfung von Produktpiraterie. Sie leitet die Rechtsabteilung der Fédération de l’industrie horlogère suisse (FH) und ist verantwortlich für rechtliche Belange, die Durchsetzung von Schutzrechten, den Schutz geografischer Angaben sowie Normierungsinitiativen. Mit über zwanzig Jahren Erfahrung an der Schnittstelle von Recht, Technologie und Innovation verfügt sie über anerkannte Fachkenntnisse im Bereich des IP-Schutzes, des IT- und Datenschutzrechts sowie der regulatorischen Compliance. Carole Aubert hat einen Master of Law (magna cum laude) der Universität Lausanne im Bereich IT- und Informationssicherheitsrecht sowie ein Lizentiat in Rechtswissenschaften von der Universität Neuenburg.

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