Vor unserer Haustür liegt ein funkelnder Schatz – wir brauchen nur hinzusehen und ihn aufzuheben

Vor unserer Haustür liegt ein funkelnder Schatz – wir brauchen nur hinzusehen und ihn aufzuheben

LuVa – ein institutionelles Tandemangebot für Hochschulstudierende

Von Daphne Zeyen, Silke Engel-Boëton und Katrin Burkhalter

„Hannelore H. ist besser“, meint Véronique mit leisem Lächeln in einfachem, gut verständlichem Deutsch, „sie hat mehr Erfahrung im Marketing, sie ist mobil, sie ist eine Frau und sie passt gut in unser Team!“. „Da bin ich nicht so sicher“, kontert Beat, „Anton M. mag zwar unerfahrener sein, ist aber sicher dynamischer und bringt mehr neue Ideen!“. Man argumentiert auf Deutsch bis zur Entscheidung. Dann: „Ça marche – on passe au français?“. Zwei weitere Bewerbungen, dieses Mal für die Romandie, werden eingehend diskutiert, natürlich auf Französisch. Véronique hilft, wenn nötig. Zweisprachig rekrutieren gehört zum Berufsalltag in der Schweiz.

So gut man sich diese Szene im schweizerischen Arbeitsalltag tatsächlich vorstellen könnte: Sie spielt sich nicht in der wirklichen Welt ab, sondern in der virtuellen. Noch stehen Véronique und Beat nicht mit beiden Beinen im Beruf, noch sind sie Studierende der Betriebswirtschaft an den Fachhochschulen Yverdon und Luzern. Sie trainieren Entscheidungsfindung im Bereich Personalmanagement, und zwar als Tandem in einer Videokonferenz, erst auf Deutsch, dann auf Französisch. Eines der Lernziele des Semesters im Bereich Sprachen lautet: In der Zielsprache Lebensläufe und Kompetenzen verstehen, analysieren und in Bezug auf ein Anforderungsprofil diskutieren. „Tolle Vorbereitung auf die Berufspraxis“, „Super – ich hätte nicht gedacht, dass ich das schaffe!“, „Das war sympathisch, vielleicht sprechen wir uns später nochmal oder treffen uns“, – solche Kommentare schreiben die Teilnehmenden in ihrem Feedback. Nicht selten tauchen die Studierenden so sehr in die Aufgabe ein, dass sie in eine Art Flow-Zustand zu geraten scheinen. Ein erfreulicher Nebeneffekt: Sprache und Kultur des Nachbarn werden auf diese Art erlebbar, bleiben in bester Erinnerung und steigern die Lernmotivation.

Véronique und Beat arbeiten nach der Tandem-Methode1. Mit LuVa haben wir uns für ein institutionalisiertes Tandemangebot (vgl. Schmelter, 2004: 15) entschieden, weil die mit ihm verbundenen Aufgaben die Studierenden dabei unterstützen sollen, die von beiden Hochschulen formulierten Ausbildungsziele zu erreichen. Es handelt sich nicht um eine Vermittlung von Tandempartnern für freie Sprachlernaktivitäten neben der Lehre, sondern um ein Sprachlernprojekt, das Bestandteil eines Sprachlernmoduls an den beiden Hochschulen ist. Heute ist das Sprachenlernen im Tandem dank Internet auch für Lernende möglich, die sich an unterschiedlichen Orten aufhalten, zum Beispiel in der Deutschschweiz und in der Westschweiz. Der Einsatz der neuen Technologien ist somit nicht Selbstzweck. Vielmehr ist das Internet ein unabdingbares Instrument für die Durchführung von LuVa.

Ein institutionalisiertes Tandemangebot steht und fällt mit der Aufgabe.

Eine gute Aufgabe schafft ein Lernbedürfnis; man ist auf den Austausch mit dem Tandempartner angewiesen. Die Aufgabe, die die Studierenden bei LuVa bearbeiten, sieht vor, dass zwei fiktive Kollegen innerhalb eines Unternehmens mit Sitz in der Deutschschweiz und in der Westschweiz (gespielt von den beiden Tandempartnern) gemeinsam eine Personalentscheidung treffen sollen. Für das Gespräch zwischen diesen beiden Kollegen wird der Einsatz der Zielsprache notwendig: Die Fremdsprache steht im Dienste einer Aufgabe, die man gemeinsam lösen möchte.

Soziales Lernen durch Rollenvielfalt

Im Tandem übernehmen die Lernenden abwechselnd die Rolle der Lernenden – in der Phase, in der sie die Zielsprache anwenden -, und der Lehrenden – in der Phase, in der sie ihre Muttersprache sprechen. Wir sprechen hier bewusst von Phasen oder auch Sequenzen, die aufeinander folgen und thematisch abgegrenzt sind. Bei LuVa wird pro Übung eine Sprache gesprochen (Deutsch oder Französisch), damit alle Teilnehmer Ausdrucksfähigkeit und Hörverstehen in der Zielsprache üben können. Dies entspricht der empfohlenen Sprachenkonstellation beim Tandemlernen (vgl. Bechtel, 2007: 268). Daher haben die Studierenden in unserem Sprachlernprojekt LuVa zwei Aufgaben: eine Verhandlungsübung im Rahmen einer Stellenbesetzung in der Deutschschweiz (Aufgabenstellung sowie Arbeitsdokumente liegen in deutscher Sprache vor – beide Tandempartner sprechen Deutsch), eine Übung für eine entsprechende Situation in der Westschweiz (Aufgabenstellung sowie Arbeitsdokumente liegen in französischer Sprache vor – beide Tandempartner sprechen Französisch).

Auch die Rolle des Dozierenden ist anders als im herkömmlichen Fremdsprachenunterricht: Er übernimmt eine sprachlernbegleitende oder sprachlernorganisierende Funktion und gibt den Rahmen vor, schafft Orientierung, formuliert Arbeitsanweisungen für die Tandems, evaluiert (korrigiert) und gibt Rückmeldungen. Die Herausforderung in unserem Projekt besteht darin, die technische Anleitung sowie die didaktischen Arbeitsanweisungen präzise, einfach und klar zu gestalten. Dies ist umso wichtiger, weil bei LuVa die Tandemübungen ausserhalb des Unterrichts stattfinden, zu einem Zeitpunkt, den die Tandempartner unter sich festgelegt haben und zu dem die Dozierenden nicht zwangsläufig erreichbar sind. Funktioniert die Technik nicht oder sind die Anweisungen für die Rollen in der Videokonferenz nicht verständlich, kann Frustration entstehen.

Im Tandem wird der Verantwortungsbereich der Lernenden erweitert, weil sie fortan nicht mehr nur für den eigenen Lernprozess, sondern auch für den ihres Tandempartners die Verantwortung tragen. Dies beginnt bereits bei der Terminkoordination. Die Tandempartner müssen einen Termin für die Videokonferenz vereinbaren und sind darauf angewiesen, dass der andere antwortet und Termine einhält, ansonsten kommt das Tandem kaum in Fahrt. Auch die Vorbereitung der Videokonferenz gehört dazu. Unterlässt es einer der Tandempartner, die Dokumente vor dem Treffen im virtuellen Raum zu studieren, kommt das Gespräch nur schleppend voran. Dies bedeutet Verlust an Sprachlernqualität auch für denjenigen, der Zeit und Mühe in die Vorbereitung investiert hat.

Das Sprachenlernen im Tandem beruht somit auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit (vgl. Cappellini & Zhang, 2013: 27): Die Hilfe, die ich erhalte, ist eng verknüpft mit der Hilfe, die ich meinem Tandempartner anbiete. Diese Art des Sprachenlernens eröffnet neue Dimensionen: Die Interaktion im Tandem ermöglicht nicht nur den Ausbau der Sprachkompetenzen, sondern auch soziales Lernen. Das soziale Lernen wiederum kann das Selbstwertgefühl der Beteiligten enorm stärken: Die Tandem-Partner machen die Erfahrung, dass sie nicht nur Lernende sind. Sie werden gebraucht und werden so zu Lehrenden.

Förderung und Festigung

Das Fremdsprachenlernen im Tandem hat überdies noch weitere Vorteile im Vergleich zum „herkömmlichen“ Sprachunterricht (vgl. Macaire, 2005: 18).

• Die Sprechzeit pro Lerner wird erhöht;
• unterschiedliche Sprachniveaus können einfacher nebeneinander bestehen;
• die Lernenden sind nicht vor der Grossgruppe exponiert, sondern agieren in einer Zweierkonstellation – die Teilnehmenden haben weniger Hemmungen, das Wort zu ergreifen;
• die Entstehung emotionaler Bindungen kann sich positiv auf die Motivation auswirken;
• durch diese herausfordernde Situation kommt es bei einigen Lernern zu einer hohen, objektiv festgestellten und subjektiv wahrgenommene Leistungssteigerung; sie bietet ein Erfolgserlebnis – mit der Schwierigkeit der Aufgabe steigen die Fähigkeiten.

In den zahlreichen Videoaufnahmen der Studierenden, die in den letzten drei Jahren entstanden sind, zeigen sich wiederholt Situationen, in denen der Spracherwerb durch das Arbeiten im Tandem gefördert wird. Zu beobachten sind folgende Spracherwerbsprinzipien:

• die Imitation: Wir konnten wiederholt feststellen, dass die Studierenden „auf natürliche Weise“ – wahrscheinlich, ohne es sich selbst bewusst zu machen – Ausdrücke und Wendungen des Tandempartners wiederholen:

– «Alors, on peut commencer?»
– «Oui!»
– «Parfait!»
– «Parfait!»

• das langsame Sprechen: Ohne Anweisung seitens der Dozierenden ergeben sich wiederholt Situationen, in denen der Muttersprachler betont langsam spricht, um seinem Gegenüber das Verständnis zu erleichtern;
• Paraphrasieren und Verwendung von Synonymen. So zum Beispiel in einer der Aufnahmen, in der der Westschweizer nach dem Stellentitel fragt und nicht auf Anhieb verstanden wird. Er formuliert um, verwendet andere Ausdrücke:

– «C’est quoi ce poste qu’on recherche?»
– «Quel est son titre?»
– «Quel titre il aura?»
– «Le nom de son poste/de son travail?»

• die Vervollständigung von Sätzen: Hat der Partner Mühe, seinen Satz weiterzuführen, hilft der Muttersprachler: „Dans l’entretien d’embauche, j’aimerais bien lui…“ – – – „… poser comme questions…“.
• die Erklärung oder Übersetzung von Wörtern: Ein Deutschschweizer versteht nicht sofort das Partizip „lu“ von „lire“. Der Westschweizer hilft mit der erklärenden Übersetzung: „Er kann lesen.“
LuVa
Kein einziger Teilnehmer, keine einzige Teilnehmerin ist je auf Englisch ausgewichen.

„Richtig verstandene und kluge Internationalität“

Die unmittelbare Nähe eines anderen Sprachraums ist ein Reichtum; man kann die Bedeutung – durchaus auch die ökonomische – der anderen Schweizer Landessprachen nur unterschätzen (das gilt vor allem für Französisch und Deutsch). Der Genfer Sprachökonom François Grin (vgl. u.v.a. Grin et al., 2015) hat nachgewiesen, dass die Kenntnis der Langue du voisin arbeitsmarktrelevant ist und sich auch im Lohn niederschlägt. Auch ein zufälliger Blick in Stellenanzeiger macht deutlich: Gute Französischkenntnisse sind für Deutschsprachige immer noch wichtig. Unter vorgekehrten Vorzeichen wäre dieser Befund noch akzentuierter: Deutsch ist für Romands wichtiger als Französisch für Deutschsprachige. Und noch einmal akzentuierter fiele das Ergebnis in Politik und Verwaltung aus.

Eine Öffnung zur Welt verträgt sich nicht mit der Beschränkung auf eine einzige Sprache.

Beat und Véronique haben sich für eine praxisorientierte Ausbildung entschieden. Praxisorientierung stellt hohe Anforderungen an die Fremdsprachendidaktik. Die Studierenden lernen, in zwei Landessprachen und auf Englisch fliessend und verhandlungssicher zu kommunizieren. Die Studierenden dafür zu rüsten – auch (oder gerade) bei individuell Mehrsprachigen – ist Teil des Lehrauftrags von Fachhochschulen. Diese bieten u.a. einen integrierten Fach- und Sprachunterricht nach der Methode EMILE (Enseignement d‘une Matière Intégré à une Langue Étrangère)2. In diesem Sinne gehen die LuVa-Tandems einen Schritt in Richtung Berufspraxis, soziale Einbindung und Handlungsfähigkeit in der Fremdsprache und entsprechen auch den Anforderungen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen: als Kadermitarbeitende im zwei- oder mehrsprachigen Umfeld und im Einklang mit der gelebten Unternehmenskultur handlungs- und entscheidungsfähig zu sein:
«Si les actes de parole se réalisent dans des activités langagières, celles-ci s’inscrivent elles-mêmes à l’intérieur d’actions en contexte social qui seules leur donnent leur pleine signification. (…) La perspective actionnelle prend donc aussi en compte les ressources cognitives, affectives, volitives et l’ensemble des capacités que possède et met en oeuvre l’acteur social.» (Vgl. CECR, 2000: 15.)

Eine Öffnung zur Welt verträgt sich nicht mit der Beschränkung auf eine einzige Sprache. Eine so systematische wie ausschliessliche Anglofonisierung vieler Ausbildungen ist aber nicht zu übersehen. Die „Englisch-Manie“, hält François Grin zu Recht fest, sei „oft naiv, unterwürfig und provinziell“ (vgl. Büchi, 2015: 40). Die Schweizer Landessprachen müssen auch in wirtschaftlichen Domänen anschlussfähig bleiben. Véronique argumentiert in der LuVa-Übung auf Französisch für oder gegen den einen oder anderen Kandidaten (und zwar so, dass Beat sie versteht). Durch dieses Learning by teaching spricht sie besonders sorgfältig Französisch. Das zeugt von hoher Sprachbewusstheit. Dadurch pflegt Véronique ihre eigene Sprache – und schützt sie so letztlich vor einem Domänenverlust.

Sprache ist kein neutrales Gedanken-Vehikel, sondern transportiert immer auch eine gewisse Art des Zugriffs auf die Welt.

Unterschiedliche Sprachen kategorisieren die Wirklichkeit anders. Wir tun also gut daran, die Mehrsprachigkeit in der Schweiz zu leben. Durch Projekte wie LuVa wird die Langue du voisin an den jeweiligen Hochschulen verankert und aufgewertet. Natürlich wären ein Studentenaustausch oder zweisprachige Studienwochen noch ergiebiger. Nur: Organisationale Hürden sind bisweilen hoch, und alles kostet Zeit, Geld und Kraft. LuVa funktioniert zu jeder Tages- und Nachtzeit von zu Hause aus; die Neuen Medien bringen hier einen echten Mehrwert. Im Übrigen ist auch der Umgang damit berufsvorbereitend; Videokonferenzen haben ihren festen Platz im modernen Berufsleben.

Vor unserer Haustür liegt ein funkelnder Schatz – wir brauchen nur hinzusehen und ihn aufzuheben.

Quelle

www.babylonia.ch
Plus d’articles sur ce thème: www.babylonia.ch > Archives thématiques > Fiche 15

LuVa

LuVa steht für Luzern–Vaud. Es geht um eine Zusammenarbeit der Haute Ecole d‘Ingénierie et de Gestion du Canton de Vaud (HEIG-VD) und der Hochschule Luzern Wirtschaft (HSLU–W). Die Nähe zwischen französischem und deutschem Sprachraum soll genutzt werden, um la langue du voisin erlebbar zu machen und an der jeweiligen Hochschule aufzuwerten. LuVa ermöglicht den Studierenden, fremdsprachige Erfahrungen in quasiauthentischen Kommunikationssituationen zu sammeln. Die Studierenden halten mit Hilfe der Software Adobe-Connect Online-Meetings ab. Diese bietet zwei grosse Vorteile: Die Gespräche können als Filmdateien aufgezeichnet werden, und jede Schweizer Hochschule hat via SWITCH (www.switch.ch) Zugriff auf Adobe-Connect.

Le projet «LuVa», initié par les Départements des langues des Hautes Ecoles de Gestion de Vaud et Lucerne, permet à des étudiant-e-s de se rencontrer et d’échanger sur Internet par visioconférences, tant en français qu’en allemand, dans les domaines de la vie économique suisse. Ces visioconférences visent à préparer les étudiant-e-s à des situations concrètes qu’ils-elles affronteront en entreprise, en communiquant dans les deux langues: présenter et mener des projets, éviter les malentendus de communication, négocier avec des clients et partenaires par-delà la «barrière de rösti». Ces échanges constituent un processus de coopération linguistique et d’apprentissage mutuel, particulièrement motivants et efficaces, tant pour les étudiant-e-s que pour les enseignant-e-s des deux Départements.

Autorinnen

Daphne Zeyen
Dozentin für Wirtschaftsfranzösisch an der Hochschule Luzern Wirtschaft. Schwerpunkte: Kooperative Sprachlernmethoden, Fremdsprachenlernen im Tandem.

Silke Engel-Boëton
Dozentin für Wirtschaftsdeutsch an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Waadt; Leiterin einer Privatschule für DaF. Schwerpunkt: handlungs- und teilnehmerorientierter Sprachunterricht im beruflichen Kontext.

Katrin Burkhalter
Dr. phil., Dozentin für Kommunikation-Deutsch an der Hochschule Luzern Wirtschaft sowie Lektorin für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Freiburg/Schweiz. Schwerpunkte: Schreibdidaktik und Textverständlichkeit sowie Berührungspunkte von DaF-/DaZ- und muttersprachlichemDeutschunterricht.

Kommentare

0 Kommentare

Kommentar verfassen

Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.