Zusammenstehen in schwierigen Zeiten: Erfahrungen vom HSLU-Stammtisch

Zusammenstehen in schwierigen Zeiten: Erfahrungen vom HSLU-Stammtisch

Autor: Marcel Zbinden

Forscher und Dozent in Wirtschaftspsychologie

In den aktuellen Krisen dieser Welt scheint die Gesellschaft immer weiter auseinanderzudriften. Dies war während der Corona-Pandemie deutlich wahrzunehmen, in welcher gewisse Beziehungen nur aufgrund unterschiedlicher Ansichten gelitten haben oder sogar zerbrochen sind. Dasselbe Muster zeigt sich aber z.B. auch im aktuellen Gaza-Israel-Konflikt. Deshalb ist die Frage, wie wir als Gesellschaft zusammenstehen können, von entscheidender Bedeutung. Genau mit dieser Herausforderung hat sich ein kürzlich an der Hochschule Luzern durchgeführter Workshop, genannt «HSLU-Stammtisch», befasst. Ziel war es, gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Bevölkerung Strategien zu entwickeln, um der wachsenden Spaltung entgegenzuwirken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

In einer Zeit, in der unsere Welt von globalen Krisen und Unsicherheit geprägt ist, wird die gesellschaftliche Spaltung immer deutlicher. Während der Corona-Pandemie wurde diese für viele erstmals so richtig offensichtlich. Aber auch bei weiteren Krisenherden wie dem Klimawandel, dem Ukraine-Krieg oder dem Gaza-Israel-Konflikt zeigt sich, wie schnell Gesellschaften aufgrund unterschiedlicher Ansichten zum entsprechenden Thema auseinanderdriften können. Dies konnten wir bei Erhebungen unseres Forschungsprojektes «Nachhaltiges Verhalten vor, während und nach Corona» mehrfach nachweisen. So etwa bei einer Befragung, ob die Schweizerinnen und Schweizer ein Auseinanderdriften der Gesellschaft wahrnehmen, oder als die Kommunikation von Behörden und Medien während der Corona-Zeit durch die Bevölkerung eingeschätzt wurde. Dies stellt uns vor die relevante Frage:

Was können wir tun, um der wachsenden gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken?

Basierend auf dieser anspruchsvollen Fragestellung haben wir vom Institut für Kommunikation und Marketing IKM den allerersten «HSLU-Stammtisch» ins Leben gerufen. Im Rahmen einer Fokusgruppe sollten Lösungen entwickelt werden, wie der soziale Zusammenhalt gestärkt werden kann. Dies bewusst nicht mit Expertinnen und Experten aus Sozial- oder Politikwissenschaften, sondern mit Vertreterinnen und Vertretern der Schweizer Bevölkerung. Wir wollten besser verstehen, was die Bedürfnisse und Wünsche derjenigen sind, die normalerweise am stärksten von den Beschlüssen der Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger betroffen sind.

Eingeladen an den Stammtisch wurden Menschen, welche mit dem Umgang mit vergangenen Krisen und der Kommunikation seitens Bund und Medien unterschiedlich zufrieden waren, wobei der Fokus auf die Corona-Pandemie gelegt wurde, weil hierzu alle eine klare Meinung haben. Die Perspektiven der insgesamt acht Teilnehmenden waren dabei mitunter aufgrund der unterschiedlichen beruflichen und familiären Hintergründe sehr vielfältig. Die geäusserten Erinnerungen an diese Zeit klingen jedoch allesamt vertraut: da waren die Jüngeren, bei denen lange Zeit Aktivitäten mit den eigenen Freunden verunmöglicht wurden. Ein Teilnehmer aus der Gastrobranche fand auch rückblickend, dass es eine Ungleichbehandlung der verschiedenen Branchen gab. Andere wiederum schätzten es, während dem Lockdown und der Home-Office-Phase deutlich mehr Zeit mit der eigenen Kernfamilie verbringen zu können. Personen der älteren Generationen hingegen waren z.T. wie ausgeschlossen von der Gesellschaft, was für diese, aber auch für deren Angehörige eine grosse Herausforderung war. Unter den Teilnehmenden gab es keine Extremhaltungen hinsichtlich Einschätzung zum Corona-Virus oder dem Management der Pandemie durch die Behörden. Dennoch waren alle der Ansicht, dass es Bund und/oder Medien hätten besser machen können, und man aus den gemachten Fehlern lernen soll. V.a. befand man, dass der Staat, die Medien aber auch jeder Einzelne von uns zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen hat. Und dass man dieser Entwicklung proaktiv entgegenwirken müsse.

Massnahmen für ein stärkeres Miteinander der Gesellschaft

Unter der Leitung von Marcel Zbinden und Larissa Dahinden fokussierte der Workshop deshalb auf die Entwicklung von Massnahmen, die ein stärkeres Miteinander fördern und Wege aufzeigen, wie wir als Gesellschaft zusammenhalten können. Das Ziel war es, aus Bevölkerungssicht konkrete und handlungsorientierte Strategien zu entwickeln. Die in den verschiedenen Diskussionen herausgearbeiteten Ansatzpunkte der Teilnehmenden lassen sich in den folgenden Überbegriffen zusammenfassen:

Toleranz und Verständnis

In einer Zeit, in der Meinungsverschiedenheiten oft zu Spaltungen führen, ist die Förderung von Toleranz und Verständnis für unterschiedliche Ansichten entscheidend. Ein Teilnehmer hat beispielsweise im eigenen Umfeld beobachtet, dass ein reflexartiges Kategorisieren von Meinungen als «richtig» und «falsch» nicht zielführend sei. Als erster Schritt sei es nötig, einfach zu verstehen, dass es eine andere Meinung gibt. Dem Teilnehmer ist es, trotz den sehr verschiedenen Ansichten, gelungen, den Zusammenhalt im Umfeld wieder aufzubauen. Auch Geduld sei dafür eine Voraussetzung gewesen: «es geht nicht in einem Gespräch. Wir haben dann ganz viele Loops gebraucht, bis dann einfach einmal ein Verständnis entwickelt wurde, dass es eine andere Meinung gibt». Dazu gehört auch, dass man das Gegenüber ausreden lässt: «Wenn jemand etwas sagt, dann hört man zu und dann gibt man eine Meinung oder akzeptiert. Und nicht einfach immer reinreden». Eine gewisse Neugier kann hier auch helfen. Eine Teilnehmerin stellt fest, dass man besser zuhören kann, wenn man sich tatsächlich für jemanden interessiert. Sich zu Fragen «warum ist es bei diesem Menschen so und bei dem anderen nicht?», sei eine konstruktivere Herangehensweise, als nur zuzuhören, um im nächsten Schritt einen Überzeugungsversuch zu starten.

Erkennen gemeinsamer Grundbedürfnisse

Trotz unterschiedlicher Ansichten teilen alle Menschen grundlegende Bedürfnisse, die als Basis für Verständigung und Zusammenarbeit dienen können. Wir hatten nämlich laut einer Teilnehmerin alle dasselbe Ziel: «am Ende des Tages geht es ja allen darum, dass wir irgendwie die Pandemie überstehen». Unterscheiden würden wir uns lediglich durch die Wege, wie wir mit unseren Bedürfnissen, z.B. der Sehnsucht nach uneingeschränktem Austausch mit unserem sozialen Umfeld, umgehen. Das Anerkennen, dass ein unterschiedlicher Umgang mit einer Situation oft aus denselben Motiven heraus geschieht, kann bereits eine gute Basis für mehr Zusammenhalt bilden. Auch das Aussprechen von Bedürfnissen kann zu mehr Verständnis führen. «Also in dem Moment, wo ich dir sage: ‘Hey, ich habe einfach Angst und wegen dem isoliere ich mich’, hast du wahrscheinlich mehr Verständnis für mich, als wenn ich sage, dass ich 100% dem Bundesrat folgen werde».

Positive Medienberichterstattung

Viele Teilnehmende fühlten sich von der Flut von negativen Berichten in der Pandemie regelrecht erschlagen. Eine ausgewogene Berichterstattung, die auch positive Entwicklungen zum Krisenthema hervorhebt, kann helfen, ein hoffnungsvolleres Bild zu zeichnen und Spaltung entgegenzuwirken. Auf Corona bezogen hätte das so aussehen können, dass man auch berichtet, dass die Chancen auf einen milden Verlauf hoch sind, oder dass die Schweiz in der Bekämpfung der Folgen der Pandemie insgesamt gute Arbeit leistet. Auch Tipps, mit denen man selbst aktiv werden kann, und etwa das eigene Immunsystem unterstützen kann, wurden gewünscht. Ebenso Zahlen, die nicht negative Auswirkungen beleuchten, sondern beispielsweise dazu, dass sich die Natur erholt, wären Lichtblicke gewesen, die man prominenter hätte betonen sollen.

Vermeidung spaltender Rhetorik

Die Vermeidung polarisierender Sprache ist wesentlich, um das gesellschaftliche Klima zu verbessern und Einheit zu fördern. Als Beispiel wurde von den Teilnehmenden der Begriff «Corona-Gegner» genannt, der Menschen mit einer grossen Vielfalt von Meinungen übergestülpt wurde. Dies verhindert, dass man sich genügend differenziert mit deren Bedürfnissen beschäftigt: «zum einen waren es ja Personen, die die Krankheit verleugnet haben. Im Gegenzug gab es andere, die die Massnahmen verurteilt haben. Beide Gruppen wurden einfach in einen Topf geschmissen». Die von den Medien kreierten, spaltenden Begriffe wurden im Anschluss von der Bevölkerung aufgegriffen, was die Spaltung deutlich forciert habe.

Ansatzpunkte für Staat, Medien und Bevölkerung

Basierend auf diesen Ansatzpunkten wurden Ideen diskutiert, wie der Staat, die Medien oder auch die Bevölkerung diese adressieren könnte. Diese wurden im Nachgang des «HSLU-Stammtischs» durch die Projektleitung konkreter ausformuliert:

Staat

  • Entwicklung von Bildungsprogrammen u.a. an Schulen, die auf die Werte von Toleranz und Vielfalt abzielen. Und den Menschen helfen, stärker auf die Gemeinsamkeiten, statt auf die Unterschiede zu fokussieren.
  • Förderung von Plattformen für einen Dialog zwischen Staat und Bevölkerung, auf welchen sich Menschen in ihren Bedürfnissen ernstgenommen fühlen. Es ist den Teilnehmenden klar, dass dies nicht einfach umsetzbar ist, aber heute wird die Distanz zwischen Bevölkerung und Staat als zu gross wahrgenommen.
  • Kampagnen, welche die Bedeutung von Kompromissen und das proaktive Miteinander in einer vielsprachigen und multikulturellen Gesellschaft mit einer grossen Heterogenität an Meinungen wie der Schweiz betonen.
  • Unterstützung von NGO-Initiativen, die sich für sozialen Zusammenhalt in der Schweiz einsetzen.

Medien

  • Fact-Checking-Initiativen, die speziell auf die schweizerische Informationslandschaft zugeschnitten sind. Entsprechende Fact-Checking-Anfragen dürfen aus allen Meinungsspektren eingebracht, und sollen seriös und fundiert beantwortet werden. Dabei soll bewusst auch Platz geschaffen werden für dem Staat und den Medien gegenüber kritisch eingestellten Menschen, damit diese sich nicht abgehängt fühlen.
  • Stärkere Schwerpunktsetzung auf positive Entwicklungen bzw. auf positives Framing innerhalb von Krisen. Nicht nur «belanglose» Good News, sondern mit klarem Bezug zu aktuell mehrheitlich negativ geprägten Themen. Als Beispiel im Zusammenhang mit Corona wurde genannt, dass man nicht nur den Anteil an Menschen mit Long-Covid erwähnen soll. Sondern auch den Prozentsatz hervorheben, die sich nach einer Erkrankung wieder vollständig erholt haben. Weniger negative Sensationsschlagzeilen, gerade in Zeichen von Krisen und Unsicherheit.
  • Explizite Plattform für die Vielfalt von Meinungen, welche die verschiedenen Ansichten der Schweizer Bevölkerung repräsentieren. Dies expliziter und prominenter als innerhalb von Leserbriefen. Dabei soll der Fokus aber weniger auf Meinungen im Sinne von Faktendarlegung gelegt werden. Vielmehr soll es um die eigene Wahrnehmung, die Bedürfnisse und Wünsche gehen. Dies damit man sieht, dass wir trotz unterschiedlicher Haltungen im Kern häufig viel mehr gemeinsam haben als oftmals gedacht.

Wir als Einzelpersonen

  • Stärkung der Medienkompetenz als Selbstverantwortung, z.B. durch Belegung von obligatorischen Kursen. Dabei soll es um den differenzierten Umgang mit Informationen aus allen möglichen Quellen von SRF über YouTube hin zu Telegram gehen. Vor allem in Krisen, in denen die Informationslage oft uneindeutig ist, sind wir als Einzelpersonen gefragt.
  • Anreizsysteme für Engagements in lokalen Gemeinschaftsprojekten. Solche Engagements gehen deutlich zurück. Sie hätten aber das Potenzial dazu, das gesellschaftliche Auseinanderdriften abzumildern, da sie dazu führen, dass man sich stärker mit Menschen ausserhalb der eigenen «Bubble» austauscht.
  • Förderung von Workshops, die den Fokus auf Kommunikation, Konfliktlösung und Empathie legen. Diese könnten z.B. zusammen mit Unternehmen durchgeführt werden, da auch diese ein Interesse an den entsprechenden Kompetenzen ihrer Mitarbeitenden haben.

Bei dieser Liste mit noch grob formulierten Ideen ist zu berücksichtigen, dass es sich beim «HSLU-Stammtisch» nicht um ein Expertengremium handelt. Entscheidender ist deshalb, welche Bedürfnisse hinter diesen Ideen stehen. Alle diese Vorschläge betonen die Bedeutung von Toleranz, Verständnis und Empathie in unserem täglichen Umgang miteinander. Dies in der politischen Diskussion, in der Berichterstattung der Medien, in der Stärkung von entsprechenden Kompetenzen in der Schule oder am Arbeitsplatz, und im wertschätzenden Umgang im persönlichen Umfeld. Die hier vorgestellten Ideen sind deshalb als Wünsche für unser zukünftiges Zusammenleben zu sehen, welche von Expertinnen und Experten bei Behörden, Politik, Medien etc. in praktikable Massnahmen übersetzt werden sollen.

Gemeinsamkeiten statt Unterschiede

Obwohl die hier vorgeschlagenen Massnahmen nicht eins zu eins umgesetzt werden können, ist gerade die Fokussierung auf die tieferliegenden Bedürfnisse der Bevölkerung die Stärke des hier gewählten Ansatzes. Denn trotz des gewählten Reizthemas Corona und unterschiedlichen Haltungen und Meinungen der Teilnehmenden verliefen die Diskussionen am ersten «HSLU Stammtisch» äusserst positiv, konstruktiv und nach vorne gerichtet. Dies ist eine wichtige Erkenntnis, denn wir Menschen stellen zu häufig die gegenseitigen Unterschiede statt die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund, was Sigmund Freud als den Narzissmus der kleinen Differenzen bezeichnete. Mit diesem Leitgedanken eines Fokus auf Gemeinsamkeiten streben wir weitere Durchführungen des Stammtisch-Ansatzes zu ähnlichen Themen an, eventuell sogar gemeinsam mit Politik- und Medienvertreterinnen und -vertretern. Interessierte dürfen sich gerne bei uns melden.

Nun wünschen wir Ihnen aber frohe und v.a. friedliche Festtage! Und wenn sich nach dem Auspacken der Geschenke im Kreise Ihrer Liebsten eine heftige Diskussion zu aktuellen Krisenherden dieser Welt anbahnen sollte, einfach daran denken: achten Sie darauf, was Sie gemeinsam haben, statt sich auf die Meinungsunterschiede zu konzentrieren und deswegen am Ende gar noch an Heiligabend unnötig zu streiten.

Das Projekt «HSLU Stammtisch» wurde durch die Stiftung Mercator ermöglicht.

Der HSLU-Stammtisch wurde in Anlehnung an das Forschungsprojekt «Nachhaltiges Verhalten vor, während und nach Corona» ins Leben gerufen.

Langzeitstudie zum nachhaltigen Konsumentenverhalten während Coronakrise

Ein Projektteam des Instituts für Kommunikation und Marketing IKM der Hochschule Luzern zeigte in insgesamt 6 Erhebungswellen mit jeweils 1’000 Schweizerinnen und Schweizern auf, wie sich das Konsum- und Freizeitverhalten sowie das Zusammenleben der Bevölkerung durch die Coronakrise langfristig veränderte. Durch Untersuchungen von Entwicklungen des Konsumentenverhaltens im Zeitverlauf von Corona und durch Kooperationen mit Nachhaltigkeitsinitiativen und -organisationen leistete das Projekt einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung in der Schweiz, zu der auch der Erhalt und die Weiterentwicklung der Demokratie gehört.

Als einer der Abschlussbausteine des Projektes wurde mit Vertreterinnen und Vertretern der Bevölkerung nach Lösungen gesucht, wie die während der Pandemie empfundene Spaltung der Gesellschaft wieder reduziert werden kann. Im Zuge dessen wurde der oben beschriebene Workshop durchgeführt. Neben dem Autor dieses Blog-Artikels, Marcel Zbinden, besteht das Projektteam aus Dominik Georgi, Larissa Dahinden und Laura Oswald.

-> Hier geht es zur Projektseite

-> Hier geht es zum Schlussbericht

Kommentare

0 Kommentare

Kommentar verfassen

Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.