22. März 2016

Customer Experience

Disruption = Chancen nutzen, Risiken erkennen

Disruption = Chancen nutzen, Risiken erkennen

«Das autonome Fahren stellt für mich einen Hype dar, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Ich frage mich immer, wie ein Programmierer (…) entscheiden können soll, ob ein autonom fahrendes Auto im Zweifelsfall nach rechts in den LKW schießt oder nach links in einen Kleinwagen.» (Matthias Müller, CEO Volkswagen AG)


Die Äusserung des VW-Chefs gegenüber dem Fachmagazin Auto-Motor-Sport (14.9.2015) veranschaulicht nur eine Sichtweise über Disruption, Digitalisierung und deren unvorhersehbaren Einfluss auf Branchen und Märkte.

Die Digitalisierung ist per se nicht disruptiv, fungiert aber als Initiator und Treiber. Oftmals sind es Start-ups, die auf digitalen Technologien und revolutionären Ansätzen beruhen und damit bisherige Business-Modelle in Frage stellen. Diese haben das Potential die Existenzen von vielen Unternehmen zumindest zu bedrohen. Die Reaktionen Schweizer Firmen sind teils noch recht verhalten. Die Palette reicht von proaktivem Handeln bis hin zu Ignoranz. Allerdings sind Kommunikation und Marketing ohne Digitalisierung fast nicht mehr vorstellbarer.

Innovation – Digitalisierung – Disruption

Auch wenn der Marktanteil von disruptiven Produkten und Unternehmen gemessen am Gesamtmarkt zunächst gering ist, so kann die Trägheit von Firmen oder fehlende digitale Expertise von Mitarbeitern und CEOs schnell zur Gefahr werden: 56 % der 440 befragten internationalen Führungskräfte in der Automobilindustrie sagen, dass ihnen das geeignete Personal für eine unternehmensweite Digitalstrategie fehlt (Russell Reynolds Associates, 2015). Die mangelnde digitale Anpassungsfähigkeit, aber auch ein Unterschätzen von Disruptoren kann hohe Akquisitionskosten von neuen Mitarbeitern oder Start-ups zur Folge haben. Google kaufte sich über YouTube in die Sozialen Netzwerke ein. Mit dem Erwerb von geschäftsfelderweiternden oder konkurrierenden Unternehmen verhelfen Disruptoren zumindest indirekt dazu, neue Kompetenzen aufzubauen; oder Wettbewerber verschwinden einfach vom Markt.

Eine am Institut für Kommunikation und Marketing IKM durchgeführte Online-Erhebung mit 571 Schweizer B2B-Kommunikations- und Salesverantwortlichen (7 / 2015) zeigte, dass die interaktive und nutzergenerierte Kommunikation mit Geschäftspartnern über Social Media Kanäle noch keine grosse Anhängerschaft findet. Man ist sich zwar der Relevanz bewusst, «möchte aber zunächst einmal abwarten und die Entwicklung beobachten». Diese Haltung wird verstärkt, wenn die oberste Führungsebene das Risiko des digitalen Wandels nicht erkennt und diesem sowohl strategisch als auch operativ nicht entgegensteuert. Digitales Umdenken muss ein Top-down-Approach sein – Kodak und Leica scheiterten daran.

Disruption gibt es dort, wo sich für Stakeholder ein innovativer Mehrwert bietet. Dies können neue Produkte, Services oder Vertriebs- und Kommunikationswege sein, mit denen sich Firmen erfolgreich am Markt positionieren, in Nischen vorstossen oder sich von Wettbewerbern differenzieren. Die Digitalisierung ist oftmals daran beteiligt, aber nicht zwangsläufig und ausschliesslich. Das Schweizer Start-up BlackSocks.com erobert eine Käufergruppe, die den Kauf von Socken als nötige, aber zeitverschwendende Angelegenheit empfindet. Über ein Socken-Abo sollen sich die Kunden den Kopf frei halten «für die wichtigen Dinge im Leben». Was mit einer verrückten Idee begann, ist 16 Jahre danach ein international etablierter Socken-Anbieter. Möglich war dieses Wachstum nur, weil andere Händler u.a. die Chancen des Direktvertriebs ihrer Produkte im Abo nicht nutzten. Innovativ? Ja. Digital? Teils. Disruptiv? Nein.

Auch das Kopieren von disruptiven Geschäftsideen kann erfolgsversprechend sein. Mit paydirekt reagiert die ungewöhnliche Kooperation von Deutschen Banken und Sparkassen auf das internationale
Online-Bezahlsystem PayPal. Das Ende 2015 gelaunchte Projekt soll Marktanteile im Zahlungsverkehr zurückgewinnen, bevor PayPal den lukrativen Markt beherrscht. Das Bankennetzwerk will damit dem veränderten Kundenverhalten gerecht werden sowie Neukunden gewinnen. Innovativ? Teils. Digital? Ja. Disruptiv? Nein.

Disruption ist primär dort erfolgreich, wo mit Digitalisierung eine Branche auf den Kopf gestellt werden kann. Meist ist dies in Bereichen, in denen Digitalisierung wenig bis gar nicht eingesetzt wird, also kein integrierter Bestandteil des Businessmodells ist. Nichtsdestotrotz wird es weiterhin erfolgreiche Unternehmen geben, die mit einem innovativen oder besseren Angebot Erfolg haben, ohne dabei disruptiv sein zu müssen.

Fallbeispiel: Disruptives Finanzmarketing

Mit der FinTech-Bewegung entstehen u.a. Startups, deren Geschäftsmodelle die klassischen Aufgaben von Kreditinstituten und Versicherungen wie Zahlungsverkehr, Finanzierung, Vermögensverwaltung
angreifen und untergraben. Mit ihren Angeboten setzen sie die Platzhirsche unter Druck, indem sie bisher nicht erkannte Kundenbedürfnisse abdecken und Prozesse einfacher und nutzerfreundlicher anbieten.

Die Zürcher Knip AG (bestes FinTech Start-up «TOP 100 Swiss Start-up Award», 2015) lancierte 2014 als erster digitaler Broker die Knip-App in der Schweiz (2015 in Deutschland), ein völlig neues Tool innerhalb der Versicherungsbranche. Kunden unterzeichnen das Brokermandat per Finger direkt in der App. Knip wird somit als Broker für alle innerhalb der App angegebenen Versicherungen beauftragt und ist gratis für Kunden. Knip selbst erhält von Versicherern eine Verwaltungsgebühr und Provision bei Neuabschlüssen. Die Vielfalt von Versicherungsverträgen ist für Privatpersonen häufig unüberschaubar. Man vertraut daher oft dem persönlichen Berater oder bekannten Corporate Brands. Neue Player mit innovativen, aber unbekannten Produkten müssen Bekanntheit und Vertrauen zugleich aufbauen, um erfolgreich zu sein. Dies über eine App inkl. Zugriff auf persönliche Daten im sensiblen Finanzsektor zu gewinnen, ist eine schwierige Aufgabe der Kommunikation. Knip generiert Vertrauen u.a. mit direkten Hinweisen zur Sicherheit der Kundendaten wie «SSL-Verschlüsselung auf Bankenniveau.» Bekanntheit wird über Mobile-, Social Media und Online-Kommunikation generiert, genau da, wo sich die Zielgruppe tummelt. PR-Massnahmen spielten vom Launch bis heute eine wichtige Rolle. Mittlerweile ist auch TV Teil des Kommunikationsportfolios.

Eher typisch für diese Art von Produkt und Unternehmen ist ein Performance-orientiertes Marketing. In der Mobile und Social Media getriebenen Kommunikation ist das Ausprobieren von Kampagnen
und Kanälen auf ihre Wirkung hin vor einem Rollout erfolgsversprechend. Ideen werden eingestampft oder weiterentwickelt. Nutzerpräferenzen und auch kulturelle Eigenschaften bestimmen die Wahl der Kommunikationskanäle und Botschaften. Oftmals ist die Deutsche Knip-Zielgruppe weniger Twitteraffin als die Schweizer – aber auch das ist nicht vorhersehbar und hängt von Werbebotschaft, Information und Kampagneneinbettung ab. Trotz gleicher Sprache beider Kulturen zahlt sich u.a. eine unterschiedliche Wortwahl auf die Glaubwürdigkeit aus. Auf Facebook werden gezielt verschiedene Posts an Schweizer und Deutsche Adressaten verbreitet.

In 20min.ch (6.1.16) wird Knips intransparente Kommunikation kritisiert. Hier heisst es, dass «sich viele Kunden melden würden, die Knip aus Unwissen ein Brokermandat übertragen haben (…). Eine grosse Schweizer Versicherung spricht davon, dass gut jeder zweite ihrer Kunden, die bei Knip einen Vertrag abschliessen, diesen innerhalb kurzer Zeit wieder auflösen». Corina Ullmann (Knip, Head of Communications) widerspricht dieser Kündigungsquote, die sich real lediglich im einstelligen Bereich bewege. Der Online-Bericht generierte 98 Kommentare in zwei Tagen, wobei diese eher positiv sind – Nutzen der App und kommunikative Selbstregulierung scheinen hier zu Trage zu kommen.

Knip hat fünfstellige Nutzerzahlen, ca. 100 Mitarbeitende, darunter neun Kommunikations- und Marketingverantwortliche. Ein Bloggerteam reagiert auf mögliche Eskalationen und negative Kommentare von Nutzern, Konkurrenzunternehmen und Versicherungsmaklern.*

Web- und technologieaffine Fintechs denken aus Nutzerperspektive. Branchenexperten sehen deshalb die Finanzwelt upside down oder zumindest im Umbruch. Versicherungen und Banken haben zunächst die disruptive Dynamik verkannt, mittlerweile entwickeln viele von ihnen eigene Geschäftsmodelle, um im Wettbewerb mitzuhalten.

Bad and Good News

Disruption verändert die Wertschöpfungskette und das Marketing. Dies kann eine Chance sein, sich selbst zu hinterfragen und Innovationen voranzutreiben. Wer hingegen die Digitalisierung ignoriert, riskiert den Anschluss zu verlieren.

Bad News: Es gibt kein Standardrezept. Die Dynamik der Veränderung ist viel zu hoch und komplex, um etablierten Unternehmen konkrete Handlungsempfehlungen geben zu können. Selbst disruptive Unternehmen tasten sich über Trial-and-Error an den Markt und ihre Zielgruppen heran und entwickeln sich weiter.

Good News: Wenn Unternehmen dazu bereit sind, eingefahrene Strukturen und Prozesse aufzubrechen und Neues auszuprobieren, haben sie auch im Zeitalter der Digitalisierung gute Karten. Dazu müssen sie ihre Kernkompetenzen kennen und auch über den Tellerrand hinaus Konkurrenz und Entwicklungen beobachten. Eine digitale Transformation gelingt umso erfolgreicher, je mehr Unternehmen eine nutzerzentrierte und innovationsfreudige Kultur entwickeln, die sowohl das Top-Management als auch die Mitarbeitenden leben – wohl eines der schwierigsten Unterfangen.

Checkliste

• Eigene Kernkompetenzen kennen, aber sich immer wieder zwingen andere Sichtweisen anzunehmen
• Markt und Mitbewerber auch ausserhalb des eigenen Business beobachten
• Wille zum Umdenken entwickeln, Innovationskultur pflegen
• Kunden-/Nutzerzentriert denken
• Inputs und Reaktionen aus Sozialen Medien ernst nehmen
• Unkonventionelle Wege und Ansätze ausprobieren, analysieren und kontinuierlich optimieren

*Interview zwischen Corina Ullmann (Head of Communications, Knip AG) und der Autorin, 8.1.2016.

Quelle: SWA Jahresbericht (2015): «Communications in the age of disrution».

Kommentare

0 Kommentare

Kommentar verfassen

Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.