Buchrezension.
Autonomie ist einer der ganz grossen Begriffe der Philosophie: Frei und vernünftig soll der Mensch sein eigenes Leben, seine Ziele, seine Maximen wählen. Denn wer sein Tun und Lassen nicht frei bestimmen kann, den kann man nicht verantwortlich machen, der kann im strengen Sinne gar nicht in der Lage sein, zu handeln. Ohne Autonomie keine Würde, keine Freiheit, keine Moral, kein gutes Leben.
Autonomie ist auch einer der ganz grossen Begriffe der modernen Organisations- und Führungslehre. Organisationen, Abteilungen, Teams und Mitarbeitende streben einen hohen Grad an Selbstorganisation an, von den Mitarbeitenden wird Selbstbestimmung, Eigeninitiative und Engagement gefordert. Dabei steht die Geschwindigkeit im Vordergrund. Projekte müssen rascher und effizienter umgesetzt werden, um die Wettbewerbsposition zu behaupten. Aber Mitarbeitende fordern auch zunehmend Autonomie am Arbeitsplatz ein, möchten das Geschehen in Unternehmen mitbestimmen, möchten eingebunden werden in Entscheidungsprozesse. Dies gilt v.a. für die Mitarbeitenden der Generation Y.
Vor dem Hintergrund des aktuellen Autonomie- und Selbstorganisations-Hypes macht es Sinn, die verschiedenen Spielarten von Autonomie, die unser Leben ganz grundsätzlich prägen, aus einer philosophischen Perspektive zu betrachten. Rössler zeigt in ihrem Buch schrittweise Autonomie-Barrieren auf: Ambivalenzen in unseren Wünschen und Zielen, die Möglichkeit der Selbsttäuschung, die Tatsache, dass wir weder perfekt rational noch sonderlich konsequent moralisch sind, dass wir uns nicht völlig durchschauen, dass wir auf die Anerkennung unserer Mitmenschen angewiesen sind. Dabei setzt Beate Rössler auf Auszüge aus der Weltliteratur, auf Tagebücher und Blogs, um die Tiefen der menschlichen Psyche auszuloten.
Eine zentrale Aussage der Autorin lautet: «Autonomie, die im Alltag lebbar ist, ist eine Aufgabe, kein Fundstück». Eine so verstandene Autonomie ist Arbeit, macht, wie die Autorin betont, nicht unbedingt glücklich und garantiert auch kein gelungenes Leben, aber sie ist, so versichert Rössler, eine notwendige Bedingung für beides, für Glück und Gelingen.
Zahlreiche Aspekte des Lebens sind gar nicht frei gewählt. Man stecke eben immer schon bis zum Hals in seinem Leben, so zitiert Rössler die Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch. Viele soziale Beziehungen und viele Situationen, in die Menschen einfach hineingeraten sind, sind nicht frei gewählt. Im Alltag wird deutlich, dass Selbstbestimmung zwar gelingen kann, aber eben auch nicht selten scheitert. Die an der Universität Amsterdam lehrende Moralphilosophin Beate Rössler erkundet die Spannung zwischen unserem normativen Selbstverständnis und den Erfahrungen, die wir machen, wenn wir versuchen, ein autonomes Leben zu führen.
Ein kluges, anregendes, aber auch forderndes Buch!
Rössler, B. (2017). Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben. Berlin: Suhrkamp.
Rezension von Stephanie Kaudela-Baum
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