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Der fundamentale Attributionsfehler in der Führungsarbeit

Der fundamentale Attributionsfehler in der Führungsarbeit
Von Dr. Sebastian Otte

Kognitive Verzerrungen – Mehr als ein Hype

Kognitive Verzerrungen (englisch cognitive biases) sind ein beliebtes Thema. Immer wieder gibt es interessante Beiträge dazu, z.B. auf SRF oder von meinen Kolleginnen und Kollegen an der HSLU. Mit kognitiven Verzerrungen sind systematische Denkfehler gemeint, die wir Menschen oft begehen (Korteling & Toet, 2022; Weber & Knorr, 2020).

Die Beliebtheit des Themas ist so stark und die Liste kognitiver Verzerrungen auf Wikipedia ist so lang, dass der Eindruck entsteht, dass wir Menschen ständig nur Denkfehler machen. Kein Wunder, dass in Science-Fiction-Filmen die Ausserirdischen fast immer als viel schlauer dargestellt werden als wir Menschen.

Andersherum kann man aber auch sagen: Wir Menschen haben grundsätzlich die Fähigkeit zum rationalen, logischen Denken und Urteilen. Ein Beweis dafür ist, dass wir unsere kognitiven Verzerrungen erkennen und unser Handeln entsprechend korrigieren können (Pinker, 2021). Und vielleicht ist der unrealistische Anspruch, dass wir selbst und andere perfekt sein sollen, auch durch kognitive Verzerrungen verursacht?

Was hat das mit Führung zu tun? Eine ganze Menge. Im Führungsalltag werden z.B. Informationen ausgetauscht, Gespräche geführt, Aufgaben verteilt, Massnahmen geplant und Mitarbeitende beurteilt und gefördert. Dabei treten immer wieder kognitive Verzerrungen auf, sowohl aufseiten der Führenden als auch der Geführten. Wenn wir diese kognitiven Verzerrungen kennen, können wir unser Verhalten anpassen und sind erfolgreicher. Deshalb gibt es Weiterbildungen, in denen die Teilnehmenden dazu befähigt werden, kognitive Verzerrungen zu erkennen und so die Qualität ihrer Entscheidungen zu verbessern (z.B. in mehreren Weiterbildungen der HSLU). Und in Studiengängen der Psychologie ist die Vermittlung der wichtigsten kognitiven Verzerrungen standardmässiger Teil des Lehrplans (z.B. im Bachelor und Master an der HSLU).

Fundamentale Attributionsfehler in der Führung: Überforderte Mitarbeiterin, kompetente Projektleiterin?

Ein klassisches Beispiel für kognitive Verzerrungen im (Führungs)Alltag ist der fundamentale Attributionsfehler (englisch fundamental attribution error). Dieser Fehler beschreibt unsere Tendenz, die Einflüsse der Situation auf das Verhalten anderer Menschen zu unterschätzen und die Einflüsse persönlicher Eigenschaften auf das Verhalten anderer Menschen zu überschätzen (Ross, 1977; Weber & Knorr, 2020).

Attributionsfehler überfordert bei Praesentation

Ein Beispiel: Ein Mitarbeiter hält eine Präsentation, stockt dabei mehrmals und hat Mühe, wichtige Themen präzise zu erläutern. Wir denken vielleicht: «Er ist faul, deshalb hat er sich nicht richtig vorbereitet.» Er denkt: «Diese Situation macht mich so nervös, dass ich ganz durcheinandergerate.»

Ueberzeit, Attributionsfehler

Ein weiteres Beispiel: Eine Mitarbeiterin macht oft viele Überstunden. Wir denken vielleicht: «Sie ist überfordert und nicht sehr effizient. Deshalb bleibt sie so lange im Büro.» Sie denkt: «Es ist so viel zu tun. Um die Aufgaben gut zu erledigen, muss ich länger arbeiten.»

Auch bei positiven Ergebnissen und Verhaltensweisen kommt der fundamentale Attributionsfehler zum Tragen, wenn auch oft weniger stark. Kann z.B. eine Projektleiterin sehr viele Erfolge präsentieren, weil das Projekt sehr gut läuft, dann gilt sie schnell als kompetent. Auch wenn besonders die Umstände oder andere Mitarbeitende für diesen Erfolg verantwortlich sind. Und bereits ein Titel wie «Projektleiterin» kann dazu führen, dass wir jemanden als kompetenter wahrnehmen.

Auch wenn es ziemlich eindeutig ist, dass das Verhalten einer Person sehr stark durch die Situation beeinflusst wurde, schreiben wir die Ursachen des Verhaltens trotzdem oft hauptsächlich den persönlichen Eigenschaften der Person zu.

Sebastian Otte

Der Sozialpsychologe Lee Ross (1977) nannte diesen Attributionsfehler fundamental, weil er sehr häufig auftritt und sehr dominant ist. Auch wenn es ziemlich eindeutig ist, dass das Verhalten einer Person sehr stark durch die Situation beeinflusst wurde, schreiben wir die Ursachen des Verhaltens trotzdem oft hauptsächlich den persönlichen Eigenschaften der Person zu. Das ist aber nicht in jedem Fall gleich ausgeprägt. Hat eine uns nahestehende Person etwas gemacht, das wir eher negativ beurteilen, dann sind wir oft eher bereit, Einflüsse der Situation anzuerkennen (Leising et al., 2014; Regan et al., 1974). Aber wenn uns jemand fremd oder sogar unsympathisch ist, dann zeigt der fundamentale Attributionsfehler seine volle Wirkung.

Fundamentale Attributionsfehler der Mitarbeitenden: Ist die Chefin schuld, wenn der Laden nicht gut läuft?

Studien zeigen, dass auch Mitarbeitende dazu neigen, Ergebnisse übermässig den Eigenschaften der Führungspersonen zuzuschreiben und die Einflüsse der Situation zu unterschätzen (Lee & Fiore, 2020; Schyns & Hansbrough, 2008). In Experimenten konnte gezeigt werden, dass Gruppenmitglieder Führungspersonen auch dann für Ergebnisse verantwortlich machen, wenn äussere Bedingungen wie z.B. die Gruppengrösse eindeutig die Hauptursache sind (Weber et al., 2001). Und nicht nur Mitarbeitende tun dies. Auch Personen ausserhalb der Organisation machen Führungspersonen oft für Ergebnisse verantwortlich, die hauptsächlich durch die Rahmenbedingungen entstanden sind. Aktuell würde ich z.B. niemandem empfehlen, CEO eines Spitals zu werden, aber das ist nur meine ganz private Meinung.

Führungspersonen wird also oft ungerechtfertigt Verantwortung für Misserfolg oder Erfolg zugeschrieben, unabhängig von ihrem tatsächlichen Einfluss auf die Ergebnisse. Aufseiten Führungspersonen kann diese Fehlzuschreibung zu einem erhöhten Selbstvertrauen und zu risikoreichem Verhalten führen, wenn sie zufällige Erfolge auf sich selbst attribuieren (Frollová et al., 2024). In solchen Fällen kann bei den Führungspersonen Selbstüberschätzung (englisch overconfidence bias) auftreten und sie treffen dann eher risikoreiche Entscheidungen (Gino & Pisano, 2011).

Situative Faktoren mitberücksichtigen: Faulheit ist meistens nicht die Ursache eines Leistungsabfalls

Alle Menschen täten also gut daran, bei der Beurteilung anderer und uns selbst sowohl persönliche Eigenschaften als auch situative Faktoren zu berücksichtigen. Wenn wir die Effektivität von Führungspersonen beurteilen, aber auch wenn wir als Führungspersonen Mitarbeitende beurteilen. Hier sollten Führungspersonen bewusst Situationseinflüsse mitberücksichtigen. Kommt es bei Mitarbeitenden zu einem Leistungsabfall, der über längere Zeit andauert, kann es sehr gut sein, dass diese Mitarbeitenden unter einer schwierigen Situation leiden. Vielleicht gibt es im Arbeits- oder Privatleben starke Belastungen, die Hauptursache für den Leistungsabfall sind. Als Führungsperson muss und sollte man nicht im Privatleben der Mitarbeitenden «herumforschen». Aber es ist wichtig, den Leistungsabfall möglichst früh anzusprechen. Dabei sollten konkrete Beobachtungen beschrieben werden. Führungspersonen sollten die Mitarbeitenden fragen, welche Unterstützung sie benötigen, anstatt einfach davon auszugehen, dass der Leistungsabfall durch Faulheit oder Gleichgültigkeit verursacht wurde.

Zum fundamentalen Attributionsfehler gehört übrigens die selbstwertdienliche Verzerrung (englisch self-serving bias), genauso wie der Hopfen zum Malz, der Tequila zur Zitrone und der Topf zum Deckel. Mit uns selbst sind wir oft weniger streng und machen eher folgendes: Gelingt uns etwas nicht, war die Situation schuld, also die Umstände, das Wetter oder die anderen. Können wir einen Erfolg vorweisen, so wurde der besonders durch unsere persönlichen Eigenschaften verursacht, die Situation hatte angeblich keinen Einfluss (Shepperd et al., 2008).

Das fühlt sich gut an und hilft uns, unser Selbstwertgefühl zu schützen oder sogar zu erhöhen. Einerseits kann uns diese selbstwertdienliche Verzerrung also Vorteile bringen. Anderseits, wenn Misserfolge zu stark auf die Umwelt attribuiert werden, findet nicht genügend Selbstreflektion und Verantwortungsübernahme statt. Dann können wir nicht lernen und uns nicht weiterentwickeln.

Eine gewisse Grosszügigkeit gegenüber anderen und sich selbst kann sehr hilfreich sein

Wenn Sie sich über andere ärgern, wissen Sie jetzt, dass es meistens nicht persönlich gemeint ist. Ihr Gegenüber handelte wahrscheinlich so, weil sie oder er meinte, dass die Situation es erforderte. Sind Sie sehr selbstkritisch und ärgern sich über sich selbst, dann gestehen Sie sich auch beim eigenen Verhalten die Einflüsse der jeweiligen Situation ein.

Und wenn Sie einen Erfolg verbuchen, gehen Sie ruhig davon aus, dass Sie persönlich dazu beigetragen haben. Das fühlt sich gut an und Sie hatten sicherlich einen positiven Einfluss. Hilfreich ist, wenn Sie dabei auch bewusst dankbar für hilfreiche Einflüsse der Situation sind. So gewinnen Sie ein umfassenderes Verständnis der Gesamtsituation und vermeiden es, aufgrund von Selbstüberschätzung zu hohe Risiken einzugehen.

Literatur

Frollová, N., Tkáčik, M., & Houdek, P. (2024). The leadership fallacy: How misattribution of leadership leads to a blaming game. Journal of Economic Psychology, 104, 102753. https://doi.org/10.1016/j.joep.2024.102753

Gino, F., & Pisano, G. P. (2011). Why leaders don’t learn from success. Harvard business review, 89 4, 68-74, 137.

Korteling, J. E., & Toet, A. (2022). Cognitive Biases. In S. Della Sala (Ed.), Encyclopedia of Behavioral Neuroscience, 2nd edition (Second Edition) (pp. 610-619). Elsevier. https://doi.org/10.1016/B978-0-12-809324-5.24105-9

Lee, L. W., & Fiore, R. A. (2020). Measuring levels of fundamental attribution error ascribed to leadership of entrepreneurial organizations across national cultures. Journal of Business Strategies, 37(1), 1-28.

Leising, D., Gallrein, A.-M. B., & Dufner, M. (2014). Judging the Behavior of People We Know:Objective Assessment, Confirmation of Preexisting Views, or Both? Personality and Social Psychology Bulletin, 40(2), 153-163. https://doi.org/10.1177/0146167213507287

Pinker, S. (2021). Mehr Rationalität: Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes. S. Fischer Verlag.

Regan, D. T., Straus, E., & Fazio, R. (1974). Liking and the attribution process. Journal of Experimental Social Psychology, 10(4), 385-397. https://doi.org/10.1016/0022-1031(74)90034-1

Ross, L. (1977). The intuitive psychologist and his shortcomings: Distortions in the attribution process. In Advances in experimental social psychology (Vol. 10, pp. 173-220). Elsevier.

Schyns, B., & Hansbrough, T. (2008). Why the brewery ran out of beer: The attribution of mistakes in a leadership context. Social Psychology, 39(3), 197-203.

Shepperd, J., Malone, W., & Sweeny, K. (2008). Exploring Causes of the Self-serving Bias. Social and Personality Psychology Compass, 2(2), 895-908. https://doi.org/https://doi.org/10.1111/j.1751-9004.2008.00078.x

Weber, R., Camerer, C., Rottenstreich, Y., & Knez, M. (2001). The illusion of leadership: Misattribution of cause in coordination games. Organization science, 12(5), 582-598.

Weber, S., & Knorr, E. (2020). Kognitive Verzerrungen und die Irrationalität des Denkens. In M. Appel (Ed.), Die Psychologie des Postfaktischen: Über Fake News, „Lügenpresse“, Clickbait & Co. (pp. 103-115). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-58695-2_10

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