Soziokultur

«Niemand aus der Dorfgemeinschaft»

«Niemand aus der Dorfgemeinschaft»

In den ersten Tagen des neuen Jahrzehnts legt eine Frau ihr frisch geborenes Kind in Därstetten, Kanton Bern, in einer Schachtel im Werkhof nieder. Sie habe gehofft, so berichtet sie später der Polizei, dort werde das Kind schnell gefunden und könne gerettet werden. Dies war dann auch der Fall, wenn auch nur knapp.

Im Dorf habe man sich Sorgen gemacht, so der Gemeindepräsident Thomas Knutti, und sich gefragt, woher die Person stamme, die ausgerechnet den Werkhof Därstetten ausgesucht habe, um ihr Kind abzulegen. Unterdessen wisse man, wer die Mutter sei. Es sei eine Person aus der Gemeinde, sie lebe jedoch sehr zurückgezogen, so dass auch ihre Schwangerschaft niemandem aufgefallen sei. Sie habe sich allerdings häufig auf dem Werkhof aufgehalten. Man sei jetzt froh, zu wissen, dass es «niemand aus der Dorfgemeinschaft» gewesen sei. Die Aufregung im Dorf habe sich gelegt berichtete die Luzerner Zeitung. Niemand aus der Dorfgemeinschaft? Immerhin ist aufgefallen, dass sich die Frau oft auf dem Werkhof aufgehalten hatte. Was macht es wohl aus, ob man in Därstetten zur Dorfgemeinschaft gehört oder nicht?

So tragisch jede Geschichte einer Kindsaussetzung ist, diese Aussage gab mir einen Stich ins Herz. Etwas Tristeres als einen Werkhof in einer schweizerischen ländlichen Gemeinde kann ich mir fast nicht vorstellen. Container, Gitter, Hinweisschilder, Verbote und Gebote. Und doch sind diese Werkhöfe auf eine Weise das Herz und das Zentrum jeden Dorfes. Hier kommt der Abfall der Gemeinde zusammen, und zwar unter aller Augen. Macht hat, wer bestimmt, wer, was, wann «ent-sorgen» kann, also aus der Sorge entlassen. In mancher Gemeinde sind Öffnungszeiten und Entsorgungspreise heisser diskutiert als manch neues Schulhaus oder neuer Verkehrskreisel. Eine Anthropologie der Werkhöfe in der Schweiz steht meines Wissens noch aus, würde jedoch die schweizerische Identität zweifellos gut spiegeln können. Wie verzweifelt muss ein Mensch sein, dorthin sein Kind zu bringen, im Winter? Was für ein Stress muss eine Geburt ohne Begleitung und Hilfe sein? Ich mag es mir gar nicht vorstellen.

Mehrere Kantone in der Schweiz kennen das Prinzip der vertraulichen Geburt. Dabei werden alle Informationen und Daten zur Kindsmutter vertraulich behandelt und bei der KESB aufbewahrt. Hat die Mutter ihr Einverständnis gegeben, kann das Kind die Information zur Identität der leiblichen Mutter dort abholen, sonst jedoch niemand. Der Vorteil der vertraulichen Geburt ist, dass die medizinische und auch psychologische Betreuung der Mutter und natürlich auch die optimale Pflege des Kindes gewährleistet sind. Die anonyme Geburt ist in der Schweiz verboten, die so genannten «Babyfenster», wo Kinder anonym abgelegt werden können, bewegen sich laut der Organisation Pflege- und Adoptivkinder Schweiz (PACH) in einer rechtlichen Grauzone. Die erste dieser Einrichtungen wurde in Einsiedeln eingerichtet, unterdessen gibt es in der ganzen Schweiz acht «Babyfenster». In der Kinderrechtskonvention ist das grundsätzliche Recht jedes Kindes festgehalten, zu wissen, wer seine leiblichen Eltern sind. Fehlt jedoch das Einverständnis der Mutter, ihre Identität bekanntzugeben, so wird ihr Recht auf Wahrung ihrer Anonymität höher gewichtet als das Recht des Kindes auf Information. Dominik Müggler, der Stiftungsratspräsident der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) und Projektleiter «Babyfenster Schweiz», hält gegenüber der NZZ fest, dass eine Frau, die ihr Kind auf dem Werkhof ablege, nicht im Sinne des Kindswohls handle. Das mag stimmen.

Dass der Gemeindepräsident den Leidensdruck anspricht, unter dem die Mutter gestanden haben müsse, macht ihn menschlich. Dass er sich im ersten Schock fragt, wer überhaupt in Frage kommen könne, den abgelegenen Standort des Werkhofs Därstetten im Simmental zu kennen, ebenfalls. Eine Gesellschaft dagegen, in der es niemandem aufstösst, wenn eine marginalisierte Person als «nicht Teil der Dorfgemeinschaft» benannt wird, handelt meiner Meinung nach nicht nur nicht im Sinne des Bürgerwohls, sondern geradezu menschenverachtend.


von: Simone Gretler Heusser

Kommentare

2 Kommentare

rahel

liebe Simone Danke für diese aufmerksmae Analyse! herzlich, rahel el

Antworten

Annina

ja, vielen Dank für das genaue Hinschauen und deine Kritik!

Antworten

Kommentar verfassen

Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.