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Sexualaufklärung: «Eltern und Schule müssen ein starkes Duo bilden»

Sexualaufklärung: «Eltern und Schule müssen ein starkes Duo bilden»

Die Menschenrechte sind uns allen ein Begriff – doch was sind sexuelle Rechte? Und welche Bedeutung haben sie für eine ganzheitliche Sexualaufklärung von Kindern und Jugendlichen in Familie und Schule? Diese Fragen beantwortet ein neues Buch der Hochschule Luzern.

In ihrem Buch «Sexualaufklärung in Familie und Schule – Relevanz der Menschenrechte» stellen Nikola Koschmieder, Daniel Kunz (beide Hochschule Luzern – Soziale Arbeit) und Caroline Jacot-Descombes (Sexuelle Gesundheit Schweiz) die Ergebnisse eines schweizweiten Forschungsprojekts vor. Dieses liefert erstmalig Daten zum Umgang mit dem Thema Sexualaufklärung im Kontext der sexuellen Rechte in Familie und Schule. 

Sexuelle Rechte sind im Prinzip nichts anderes als sexualitätsbezogene Menschenrechte. Sie schliessen Kinder und Jugendliche mit ein, weil sie deren Entwicklungsfähigkeit berücksichtigen. Nach dem Grundsatz der sich entwickelnden Fähigkeiten sollen sie die freie und ausnahmslose Selbstbestimmung über sich, ihren Körper und ihr Leben erlangen. Das Ziel besteht darin, dass Geschlecht und Sexualität nicht länger Ursache von Ungleichheit, Stigmatisierung und Diskriminierung sind; allesamt Hinderungsgründe für die Realisierung sexueller Gesundheit.

Jugendliche kommen selbst zu Wort

Wie aber steht es nun um die sexuellen Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz? Grundsätzlich ziehen die Autor:innen ein positives Fazit: «Es ist deutlich zu erkennen, dass Familien und Schule Anstrengungen unternehmen, Kinder und Jugendliche altersgerecht aufzuklären. Sie nehmen ihre jeweiligen Rollen adäquat wahr und ergänzen sich», sagt Nikola Koschmieder. Daniel Kunz ergänzt: «Es ist ein hoffnungsvolles Bild, das sich uns hier eröffnet hat. Eines, das in dieser Weise in der Öffentlichkeit nur selten widerspiegelt wird.»

Das Buch lebt nicht zuletzt von zahlreichen Zitaten von Jugendlichen, Müttern, Vätern, Lehr- und Fachpersonen. Insbesondere die Stimmen der Jugendlichen seien zentral, erklärt Caroline Jacot-Descombes: «Wenn wir darüber diskutieren wollen, was für eine Aufklärung Kinder und Jugendliche brauchen, müssen wir ihnen auch zuhören.»

Positiv fiel den Autor:innen unter anderem die Tatsache auf, dass die Eltern Themen aufgreifen, welche die sexuellen Rechte betreffen – auch wenn sie dies zumeist nicht bewusst tun. «Innerhalb der Familien finden Lernen und die Vermittlung von Wissen situativ und stark mit dem Alltag verwoben statt», erklärt Daniel Kunz. Genau an diesem Punkt kann die Schule ergänzend wirken und vertieft auf das Thema eingehen, fügt Nikola Koschmieder hinzu. «Es braucht dieses starke Duo aus Familie und Schule, um eine ganzheitliche Sexualaufklärung zu ermöglichen.» Für die Autor:innen ist klar: Je mehr Kinder und Jugendliche über ihre sexuellen Rechte wissen, umso besser sind sie vor Zwang, Gewalt oder Diskriminierung geschützt.

Caroline Descombes, Daniel Kunz und Nikola Koschmieder
Caroline Jacot-Descombes, Daniel Kunz und Nikola Koschmieder

Mehr Zeit im Stundenplan

Das Buch thematisiert denn auch die nach wie vor bestehenden Lücken und Schwächen in der institutionalisierten Sexualaufklärung, wie Caroline Jacot-Descombes klarstellt: «Handlungsbedarf besteht beispielsweise beim Wissen rund um das Recht auf Entschädigung.» Das Recht auf Wiedergutmachung bei Verletzung der sexuellen Integrität mag selbstverständlich erscheinen. Die Studie zeigt aber auf, dass in der Bevölkerung nur wenig Wissen diesbezüglich besteht – beziehungsweise, dass dieses Wissen für Betroffene nur schwer zugänglich ist.  

Zudem besteht Nachholbedarf bei der Sexualaufklärung in der Schule. In der Fachwelt besteht längst Konsens darüber, dass dem Sexualkundeunterricht in der Schule bzw. in der Ausbildung von Lehrpersonen mehr Zeit im Stundenplan eingeräumt werden sollte. «Das würde auch dem mehrheitlichen Wunsch der Jugendlichen entsprechen, wie unsere Ergebnisse zeigen», sagt Nikola Koschmieder. Da die Kantone für Bildung zuständig sind, sieht Daniel Kunz diese in der Verantwortung. Er merkt an: «Wir sehen hier aktuell jedoch wenig Motivation, mehr für eine bessere Sexualaufklärung zu unternehmen.» Um hier einen Anstoss zu geben, listet das Buch eine Reihe von Empfehlungen auf, zu denen unter anderem gehört, das Duo Familie und Schule durch die Beiziehung von Fachstellen sexueller Gesundheit zu einem Trio zu erweitern.

Zudem ist bisher kaum ersichtlich, wie die Schulen in den Kantonen Sexualaufklärung in der Praxis vermitteln. «Wir befinden uns diesbezüglich in einem Blindflug» konstatiert Jacot-Descombes. «Es ist deshalb wichtig, dass die Resultate der Studie sichtbar werden.» Und Daniel Kunz ergänzt: «Unser Buch ist ein Puzzleteil, das das Gesamtbild schärft.»

Beitrag: Ismail Osman
Foto: HSLU
Veröffentlicht am: 21. Dezember 2023

Über die Co-Autor:innen

Prof. Daniel Kunz ist Sozialarbeiter MSW und Kinder- und Jugendpsychotherapeut. Der Experte für sexuelle Gesundheit lehrt und forscht am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern.
Nikola Koschmieder ist Soziologin und als Senior Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention der HSLU tätig.
Caroline Jacot-Descombes ist stv. Geschäftsleiterin und Projektleiterin für Sexualaufklärung bei Sexuelle Gesundheit Schweiz.

Mehr zum neuen Buch
Je mehr Kinder und Jugendliche über ihre sexuellen Rechte wissen, umso besser sind sie vor Zwang, Gewalt oder Diskriminierung geschützt. Sexuelle Rechte sind daher ein Schlüsselthema in der neuen Publikation «Sexualaufklärung in Familie und Schule – Relevanz der Menschenrechte». Zudem liefert sie erstmalig Daten zur familiären und schulischen Sexualaufklärung in der Schweiz und bietet somit eine wissensbasierte Grundlage für die Reflexion und Weiterentwicklung der Praxis. Das Buch ist Teil der Schriftenreihe «Sexualität umfassend verstehen und professionell handeln» und kann über den interact-Verlag bezogen werden.

Mehr zum Fachbereich Sexuelle Gesundheit an der HSLU
Der Fachbereich beschäftigt sich mit sexueller Gesundheit im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich. Dabei wird davon ausgegangen, dass Sexualität nicht nur nach inneren biologischen Gesetzmässigkeiten abläuft, sondern ein Spiegel der soziokulturellen Formung des sexuellen Verhaltens und Erlebens darstellt.

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