Behinderung und Lebensqualität,
Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen stellt Fachkräfte vor schwierige Aufgaben. Die von der HSLU und der FHNW entwickelten HEVE-Guidelines bieten eine wertvolle Orientierungshilfe für die Praxis. Im Interview erklärt Co-Projektleiterin Stefania Calabrese, wie die Leitlinien den Alltag von Fachleuten und begleiteten Personen vereinfachen können.
Schreien, Rückzug, fremdverletzendes Verhalten oder auch Selbstverletzungen: Wer mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen arbeitet, kennt wahrscheinlich solche herausfordernden Situationen. Im Rahmen des Projekts «HEVE-Guidelines» wurde in der Schweiz erstmals eine praxisorientierte Anleitung entwickelt, die Fachkräften aus der Sozialen Arbeit hilft, mit herausforderndem Verhalten (HEVE) bei Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen umzugehen. Dabei arbeiteten Praxisverbände und die Wissenschaft eng zusammen. Seit der Veröffentlichung vor etwa zwei Jahren haben bereits mehrere Einrichtungen die Guidelines erfolgreich implementiert, wie die Erziehungswissenschaftlerin Stefania Calabrese weiss.
Stefania Calabrese, zu welchem Zweck wurden die HEVE-Guidelines entwickelt?
Wer mit Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung arbeitet, sieht sich manchmal mit herausfordernden Verhaltensweisen konfrontiert. Dieses Verhalten ist oft Ausdruck einer inneren Notlage und erfordert gezielte Unterstützung. Gleichzeitig sind solche Situationen auch für erfahrene Fachpersonen belastend und können die Qualität der Begleitung sowie die Arbeitszufriedenheit beeinflussen. Die HEVE-Guidelines sollen mit klaren und wissenschaftlich fundierten Empfehlungen eine Hilfestellung bieten.
An wen richten sich die Leitlinien?
Die Guidelines richten sich an alle Fachpersonen, die mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen arbeiten. Sie bieten Orientierung, indem sie die Perspektive der betroffenen Personen und die Rahmenbedingungen in Institutionen berücksichtigen. Ziel ist es, den Fachkräften Sicherheit und Klarheit im Umgang mit schwierigen Situationen zu geben. Gleichzeitig tragen die Guidelines zur Weiterentwicklung der Sozialpädagogik bei, indem sie den Austausch zwischen Fachleuten fördern. Denn eine professionelle Begleitung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen bedingt eine Interdisziplinarität.
Warum haben Sie diesen Handlungsbedarf festgestellt, gab es bisher nichts Vergleichbares?
Zumindest nicht in einem wissenschaftlichen Rahmen. In der Praxis ist sozialpädagogisches Handeln manchmal durch situatives und reaktives Handeln geprägt. Dieses Handeln ist vielfach sehr adäquat, es kann aber auch zu uneinheitlichem Handeln im Team oder sogar Willkür führen, was die Begleitung unsicherer macht und ihre Qualität verringert. Mit den Guidelines bekommen Fachpersonen eine klare Orientierung, die ihnen hilft, professionell zu handeln. Die Leitlinien fördern nicht nur eine gute Reaktion in akuten Situationen, sondern helfen auch, herausforderndem Verhalten schon im Voraus vorzubeugen. Dadurch wird die Qualität der Begleitung besser und die Lebensqualität der begleiteten Menschen steigt.
Auf welche Themen legen diese Leitlinien ihren Fokus?
Die HEVE-Guidelines haben einen besonderen Fokus: Sie setzen auf Verstehen und einen agogischen Ansatz – also darauf, Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Dabei wird das herausfordernde Verhalten aus zwei Blickwinkeln betrachtet: Erstens wird geschaut, wie die Fähigkeiten der betroffenen Person gestärkt werden können, um schwierige Situationen besser zu bewältigen. Zweitens geht es darum, die Umgebung so anzupassen, dass sie für die Person unterstützend ist. Die HEVE-Guidelines betrachten stets die Wechselwirkungen zwischen Mensch, sozialem Umfeld und Umgebung. Dies, weil herausforderndes Verhalten immer durch ungünstige Bedingungen in diesem Zusammenspiel entsteht.
Können Sie ein Beispiel geben, wie die HEVE-Guidelines in der Praxis zum Einsatz kommen?
Ein wichtiger Teil der Leitlinien ist das Verstehen der Situation und das Entwickeln eines Handlungsplans auf Basis von Hypothesen. Dies kann beispielsweise bei einer Fallbesprechung von Nutzen sein. Die Guidelines helfen zu verstehen, was die tieferen Ursachen für das herausfordernde Verhalten sind, welche Auslöser es gibt und welche Funktion das Verhalten haben könnte. Daraus wird abgeleitet, welche Massnahmen ergriffen werden können, um dem Verhalten vorzubeugen und schwierige Situationen zu deeskalieren.
Letztlich verbessern die Guidelines somit die Lebensqualität von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen?
Absolut. Sie tun dies, indem sie einen starken Fokus auf das Verstehen von Verhaltensauffälligkeiten legen. Dieses Verstehen zeigt der betroffenen Person, dass ihr Verhalten und ihr Anliegen ernst genommen werden. Das hilft, möglicherweise wenig gelingende Beziehungen zwischen Fachpersonen und betroffenen Personen zu verbessern. Das Verstehen macht deutlich, welche emotionalen Bedürfnisse hinter dem Verhalten stecken – zum Beispiel der Wunsch nach Zuwendung, Sicherheit oder Selbstbestimmung. Dadurch fühlen sich die betroffenen Personen besser unterstützt und akzeptiert. Zusammen mit einer professionellen und reflektierten Begleitung bieten die Guidelines somit eine fundierte Grundlage für Verbesserungen im Alltag.
Wovon dann wiederum auch die Fachpersonen profitieren.
Genau. Die HEVE-Guidelines geben Fachpersonen klare Orientierung und Sicherheit im Umgang mit herausforderndem Verhalten. Das verringert Stress und Unsicherheiten und hilft Teams, eine gemeinsame Haltung und einheitliche Arbeitsweise zu entwickeln. Insgesamt fördern die Leitlinien eine professionellere Arbeitsweise, die letztlich zu einer höheren Zufriedenheit auf beiden Seiten führt.
Text: Ismail Osman
Bild: Stefania Calabrese
Veröffentlicht am: 17. Dezember 2024
Workshops in Luzern und Olten
Die dreitägige Weiterbildung «Herausforderndes Verhalten von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen: Verstehen und Handeln» mit den HEVE-Guidelines wird jährlich abwechselnd in Luzern und Olten angeboten. Sie kann auch als Inhouse-Schulung in Einrichtungen gebucht werden. Der Fokus der Weiterbildung liegt nicht nur auf der theoretischen Vermittlung der Leitlinien, sondern vor allem auf deren praktischer Integration in den Arbeitsalltag. Ergänzend dazu werden Fachberatungen und Fallbesprechungen vor Ort durchgeführt, um eine nachhaltige Umsetzung und kontinuierliche Reflexion der erlernten Inhalte zu gewährleisten.
Weiterführende Informationen
Prof. Dr. Stefania Calabrese ist Erziehungswissenschaftlerin. Seit 2016 ist sie Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit am Institut Sozialpädagogik und Bildung. Dort ist sie für das Kompetenzzentrum Lebensqualität und Behinderung verantwortlich.
Die HEVE-Guidelines wurden zusammen mit Prof. Dr. Eva Büschi von der FHNW entwickelt.
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