22. März 2021

Wirtschaftskriminalistik

Macht und Machtmissbrauch in Unternehmen

Macht und Machtmissbrauch in Unternehmen

Von Dr. med. Thomas Knecht

Macht ist im Rahmen von Arbeitsprozessen jeder Art von entscheidender Bedeutung. Ohne sie ist in Sachen Aufbau, Entwicklung und Produktivität von Unternehmen wenig zu erwarten. Aber auch die allerorts grassierende Wirtschaftskriminalität kommt ohne Macht als bewegende Kraft nicht aus. Grund genug, sich mit dem Phänomen der Macht respektive des Machtmissbrauchs einmal unter evolutionspsychologischem Aspekt auseinanderzusetzen.

Der Wortstamm «Magh-» bedeutet indogermanisch «vermögen» oder «fähig sein» und reicht in die Zeit zurück, als der Weltbezug des Menschen noch ein magischer war. Der Kosmos wurde noch als Geflecht rätselhafter Kräfte erlebt, welche einen bedrohten, die man sich aber auch zu Nutze machen konnte. Die Machtergreifung des Menschen durch Wissenschaft und Technik über die Natur sollte aber noch Jahrtausende in Anspruch nehmen. Daneben war die Einflussnahme auf die soziale Mitwelt bereits in den Uranfängen möglich und begann schon bei den frühesten sozial lebenden Wirbeltieren. So betrachtet könnte sich eine evolutionäre Betrachtung des Machtphänomens lohnen, wobei neben der biologischen auch die kulturelle Evolution ins Auge zu fassen ist.

Konzeptionen der Macht

In der Literatur finden sich unterschiedlichste Konzeptionen der Macht. Wir müssen uns auf eine knappe Auswahl beschränken, welche im betriebswirtschaftlichen Kontext relevant sind. Während B. Russel eine geradezu universale Sicht der Macht hatte, indem er sagte «Macht ist für soziale Systeme das, was die Energie für die Physik ist», finden wir bei anderen Autoren eine Dichotomie, welche Macht entweder als personengebundenes Phänomen oder aber als Beziehungsphänomen auffasst. Max Weber beispielsweise definierte sie als «die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung seinen Willen durchzusetzen». Hannah Arendt fasste sie als generelle Fähigkeit der Menschen zum Bündeln der Kräfte und zum gemeinsamen Wirken auf: Über Macht verfüge niemals nur der Einzelne; vielmehr sei sie im Besitz einer Gruppe und existiere nach deren Auflösung nicht mehr (Übersicht bei Knecht, 2004b).

Im Weiteren soll Macht als Möglichkeit der Einflussnahme auf soziale Prozesse definiert werden, wobei den beiden obigen Standpunkten Rechnung getragen werden soll. Einerseits soll die Fähigkeit eines Individuums, Macht auszuüben in den Fokus gerückt werden, andererseits werden machtgeleitete Prozesse durchaus als Gruppenphänomene innerhalb eines sozialen Systems verstanden. Auch klassische Weisskragendelikte haben das Bestehen eines Wirtschaftssystems mit etabliertem Machtgefüge zur Voraussetzung.

Machtmittel

Eine Frage, welche hier unmittelbar anschliesst, ist diejenige nach den Machtmitteln: Solche existieren in grosser, fast unbegrenzter Zahl. In Wirtschaftsunternehmen ist in allererster Linie die Machtausübung durch Belohnung etabliert. Alternativ kommen auch solche durch Zwang, Legitimation, Sachbekenntnis, Informationsvorsprung und andere mehr in Frage.

Geld und weitere Vergünstigungen bilden also den Treibstoff, welcher die Einflussnahme der einen auf die anderen möglich macht. Die Machtfülle von Einzelpersonen und Gruppen bemisst sich also auch an der Einflussnahme, welche die betreffenden Individuen auf die innerbetrieblichen Geldströme haben. Eine höhere Position bringt also nicht nur ein höheres Mass an Verantwortung für das Betriebsergebnis mit sich, sondern auch die Möglichkeit, die Finanzflüsse in diese oder jene Richtung zu lenken, inklusive in die eigene Tasche.

Evolution eines sozialen Phänomens

Es wurde nun deutlich, dass das jeweilige Machtgefüge direkt durch die Struktur des betreffenden Systems inklusive der daran beteiligten menschlichen Individuen bestimmt wird. Dies fängt bei einer Zweierpartnerschaft an und erstreckt sich bis zum unübersichtlichen Konglomerat eines multinationalen Konzerns. Je komplexer das Gebilde, desto üppiger sind die Möglichkeiten, die eigene Macht unerkannt zum egoistischen Nutzen zu missbrauchen. Hinzu kommt, dass in der Anonymität eines Grossunternehmens die soziale Kontrolle durch langjährige enge Arbeitsbeziehungen, welche auf Gegenseitigkeit beruhen, ausdünnt (Knoblach et al., 2012).

Man kann nun die Evolution der Macht im Zuge des ewigen Kampfes um Ressourcen entlang der gesamten aufsteigenden Tierreihe bis hin zu unserer Spezies rekonstruieren. Dies reicht vom Verdrängungskampf der Bakterien und Schimmelpilze über die Revierkämpfe von Gliederfüssern bis zur Hackordnung der Hühner. Schon auf diesen Stufen wird deutlich, dass Sieg und Niederlage nicht auf dem Zufallsprinzip beruhen, sondern dass es vielmehr «Siegertypen» gibt. Diese werden der Zeit und der Zahl der Erfolge immer siegesgewisser und nehmen in den sozialen Hierarchien schliesslich die Alpha-Position ein. Bei den höheren Rudeltieren differenzieren sich dann die Modalitäten des Rangkampfes. Während bei Wölfen die Rangordnung noch im 1:1-Duell ausgemacht wird, zeigen höhere Primaten durch das Schmieden von Allianzen ein komplexeres politisches Verhalten. Neben der brachialen Kampfkraft erhält nun die «soziale Attraktivität», das heisst die Fähigkeit, Bundesgenossen durch Gefälligkeiten zu gewinnen, Bedeutung. In der «Schimpansen- Politik» kommen bereits diverse politische Manöver vor, welche dem eigenen Machtgewinn dienlich sind: Koalitionen zur Mehrheitenbildung, Bestechung durch Teilen von Jagdbeute, sexueller Dienstleistungen und andere Wohltaten wie zum Beispiel Lausen. So ergibt es sich, dass ab den höheren Primaten nicht das kampfstärkste Männchen die Alphaposition ergattert, sondern das sozialkompetenteste. Es bringt am meisten Artgenossen dazu, sich ihm anzuschliessen. Die Notwendigkeit, bei diesen politischen Manövern mitunter auch Verrat zu üben, verdeckt vorzugehen oder mit leeren Versprechungen zu operieren, führte schon im vormenschlichen Bereich zur Entstehung der «manipulativen Kompetenz». In der Verhaltenspsychologie wird dies auch «Machiavellische Intelligenz» genannt und ermöglicht das Benützen der Rudelgenossen zu eigenen Zwecken. Diese Form der sozialen Intelligenz ist nicht mit der Schulintelligenz korreliert, was erklärt, dass die besten Schüler nicht unbedingt in die höchsten Machtpositionen aufsteigen (Knecht, 2004a).

Gute und böse Macht in Betrieb

Nach den obigen Darlegungen ist nun klargeworden, dass Machtstrukturen und Machtprozesse unabdingbar sind, um ein soziotechnisches System wie ein Wirtschaftsunternehmen in Gang zu halten. Diesen Antriebskräften ist ihre moralische Dignität nun nicht auf einen Blick anzusehen. Vielmehr erschliesst sie sich aus dem weiteren Kontext, insbesondere aufgrund der Konsequenzen, welche sich aus ihnen ergeben. Die Machiavellische Intelligenz verhilft zunächst ihrem Träger zum raschen Aufstieg. So kann eine sogenannte «Beziehungskarriere» ungleich schneller verlaufen, wenn man sich den Schlüsselfiguren im Betrieb andient. Man widmet sich vorab der Befriedigung von deren persönlichen Bedürfnissen, bevor man sich im Rahmen einer «Leistungskarriere» für den gesamten Betrieb nützlich macht und sich so seine Meriten holt. Wenn man sich im Rahmen einer Günstlingswirtschaft an einer «Seilschaft» beteiligt, erfolgt der Aufstieg gewöhnlich rascher. Das birgt aber auch die Gefahr des Absturzes, falls die eigene Seilschaft nicht obsiegt. Treten Rivalen auf, so wird der Wettbewerb um den Aufstieg nicht durch fairen Leistungsvergleich entschieden, zumal sich hier als Alternative die Intrige anbietet. Darunter verstehen wir den verdeckten, hinterhältigen Angriff auf Konkurrenten und Konfliktgegner, welche nun eben mit dubiosen Mitteln aus dem Feld geschlagen werden: Üble Nachrede, Mobbing, Erpressung, Schuldzuweisungen bei Betriebspannen und weiteres mehr. Die immer wiederkehrende Beobachtung solcher machiavellistischer Verhaltensmuster im Kampf um den innerbetrieblichen Aufstieg bewog Pourroy im Jahr 1988 zur Erstellung der folgenden Merkmalsliste für «intrigante Charaktere»:

  • Geringe moralische Hemmungen
  • Vermeidung offener Auseinandersetzungen
  • Instrumentalisierung Dritter
  • hohe soziale Manipulationsfähigkeit
  • gesteigertes Interesse an Betriebspolitik
  • Erfolg mit Intriganz in der Vorgeschichte

Ist der Aufstieg gelungen, so winkt eine rasche (Selbst-)Belohnung durch Firmengelder, welche über das ohnehin stattliche Gehalt unter Umständen weit hinausgehen. Nicht jeder erliegt dieser Versuchung, die eroberte Macht in diesem missbräuchlichen Sinne einzusetzen. Die Erwartung an den Verantwortungsträger ginge ja dahin, dass er Macht und Ressourcen so einsetzt, dass sie zum Nutzen aller Stakeholders eines Unternehmens gereichen. Missbrauch in seiner elementarsten Bedeutung heisst demnach, dass die Belohnungsmittel, welche gleichsam das Blut in den Arterien des Unternehmens darstellen, vorab zum eigenen Vorteil abgezweigt werden. Oder sie werden der eigenen Bezugsgruppe, das heisst dem kriminellen Netzwerk über Gebühr zugeführt. Es ist für Aussenstehende kein Leichtes, zu erkennen, wo genau die rote Linie hin zur kriminellen Selbstbereicherung überschritten wird. Angesichts der exorbitant hohen Beträge, welche man sich hier genehmigt, ist der Argwohn relativ rasch geweckt. Dazu meinte einst der US-Politikwissenschaftler Robert Axelrod in Jahr 1987: Das Problem liege darin, dass jeder von der Kooperation anderer profitieren könne, dass der Einzelne aber noch besser wegkomme, wenn es ihm gelingt, die kooperativen Bemühungen der anderen ohne Gegenleistung auszubeuten. Wie wahr!

Quellen:

  • Axelrod R.: Die Evolution der Kooperation. Oldenbourg, München 1987
  • Knecht T.: Was ist machiavellische Intelligenz?- Beobachtungen über eine wenig beachtete Seite unserer Psyche Nervenarzt 2004, 75, 1-5 (a)
  • Knecht T.: Psychomachiavellismus – Ethologische und psychobiologische Grundlagen von machtorientiertem Verhalten Psycho Praxis 2004, 1, 42-49 (b)
  • Knoblach B. et al: Macht in Unternehmen – Der vergessene Faktor Gabler/Springer Fachmedien, Wiesbaden 2012
  • Pourroy S.A.: Das Prinzip Intrige – über die gesellschaftliche Funktion eines Übels 2. Aufl. Edition Interfrom, Zürich 1988

Autor: Dr. med. Thomas Knecht

Dr. med. Thomas Knecht wuchs im Kanton Zürich auf, wo er 1983 an der Uni ZH sein Medizinstudium abschloss und zum Dr. med. promovierte. Nach der Ausbildung zum Facharzt Psychiatrie arbeitete er zunächst als Oberarzt der Suchtabteilung in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen TG, wo er später als Bereichsleiter Sucht und Forensik wirkte. Seit 2012 ist er Leitender Arzt des Psychiatrischen Zentrums AR in Herisau mit Schwerpunkt Gerichtsgutachten und Gefängnispsychiatrie.

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