12. Mai 2025

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Wirtschaftsrecht

Rechtsstaat auf dem Prüfstand: Was die Anklageschrift im Fall Vincenz für die Praxis bedeutet

Rechtsstaat auf dem Prüfstand: Was die Anklageschrift im Fall Vincenz für die Praxis bedeutet

Von Manuel R. Zweifel-Neval

Die Anklageschrift ist im Schweizer Strafrecht von zentraler Bedeutung. Der Fall Pierin Vincenz verdeutlicht, dass eine unklare oder ungenaue Anklage zu erheblichen Verzögerungen und Rechtsunsicherheiten führen kann. Gleichzeitig zeigt er aber auch, dass die schweizerischen Gerichte sich intensiv mit den Rechten der Beschuldigten auseinandersetzen und nicht jede Formulierung in einer Anklageschrift einfach hinnehmen. Inwiefern stärkt dies das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Schweiz?

Die Anklageschrift spielt im schweizerischen Strafprozess eine zentrale Rolle, da sie den Gegenstand des nachfolgenden Gerichtsverfahrens definiert und die Grundlage für die gerichtliche Beurteilung bildet. Gemäss Artikel 325 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO) muss die Anklageschrift unter anderem folgende Elemente enthalten, die gleichzeitig der Anklageschrift eine gewisse Struktur verleihen:

  • Bezeichnung der anklageerhebenden Staatsanwaltschaft: Nennung der Behörde, die die Anklage erhebt;
  • Angaben zur beschuldigten Person und ihrer Verteidigung: Detaillierte Informationen über die beschuldigte Person sowie deren rechtliche Vertretung, allenfalls kommen je nach Delikt Angaben zu geschädigten natürlichen oder juristischen Personen hinzu;
  • Beschreibung der vorgeworfenen Taten: Eine möglichst kurze, aber präzise Darstellung der Taten mit Angaben zu Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen der Tatausführung;
  • Anwendbare Gesetzesbestimmungen: Die rechtliche Qualifikation der Taten unter Angabe der entsprechenden gesetzlichen Grundlagen.

Die obigen Anforderungen dienen dazu, die sogenannte Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift zu gewährleisten, welche sicherstellt, dass das Gericht nur über die in der Anklage beschriebenen Sachverhalte urteilt. Zudem erfüllt die Anklageschrift eine Informationsfunktion, indem sie der beschuldigten Person ermöglicht, die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu verstehen und sich entsprechend zu verteidigen.

Der Fall Pierin Vincenz und die Kontroverse um die Anklageschrift

Ein prominentes Beispiel für die Bedeutung der Anklageschrift ist der Fall des ehemaligen Raiffeisen-CEOs Pierin Vincenz. Ihm wurde im Wesentlichen vorgeworfen, sich persönlich an Unternehmenskäufen bereichert zu haben. Die Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich (Wirtschaftskriminalität) erhob 2021 Anklage wegen Betrugs, ungetreuer Geschäftsbesorgung und weiterer Delikte. Am 25. Januar 2024 hob das Zürcher Obergericht das erstinstanzliche Urteil gegen Vincenz auf, da es die Anklageschrift als mangelhaft erachtete und schwerwiegende Verfahrensfehler feststellte. Das Obergericht forderte die Staatsanwaltschaft auf, die Anklageschrift zu überarbeiten, um den Anforderungen der StPO gerecht zu werden (Medienmitteilung).

Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich legte daraufhin Beschwerde beim Schweizerischen Bundesgericht ein. Am 17. Februar 2025 entschied das Bundesgericht zugunsten der Staatsanwaltschaft und stellte fest, dass die Anklageschrift ausreichend detailliert war und keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorlag. Dieses Urteil verhinderte eine aufwändige Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens und ermöglichte die Fortsetzung des Berufungsverfahrens vor dem Zürcher Obergericht (Medienmitteilung).

Der Fall Vincenz verdeutlicht die zentrale Bedeutung der Anklageschrift im schweizerischen Strafprozess. Eine präzise und den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Anklageschrift ist unerlässlich, um die Rechte der beschuldigten Person zu wahren und ein faires Verfahren sicherzustellen. Gleichzeitig zeigt der Fall, dass die Justiz bereit ist, Mängel in der Anklageschrift zu korrigieren, um die Integrität des Verfahrens zu gewährleisten

Bedeutung für die Praxis

Für die Praxis ergeben sich nachfolgende Erkenntnisse aus dem Fall Pierin Vincenz:

  • Erfordernis eines hohen Masses an Präzision oder «möglichst kurz, aber genau» (Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO): Staatsanwaltschaften müssen ihre Anklagen kurz und äusserst präzise formulieren, um Anfechtungen zu vermeiden.
  • Rechtsschutz der Beschuldigten: Gerichte sind sensibel gegenüber möglichen Verletzungen des rechtlichen Gehörs und überprüfen Anklageschriften genau.
  • Widersprüchliche Gerichtsentscheidungen sind möglich: Auch innerhalb der Schweizer Justiz gibt es unterschiedliche Auslegungen der StPO. Die Beurteilungen über die Anforderungen an eine Anklageschrift ist keine exakte Wissenschaft, sondern ein juristischer Prozess, der sowohl klare gesetzliche Vorgaben als auch Interpretationsspielräume beinhaltet.
  • Besondere Herausforderungen bei umfangreichen Anklagen: Bei komplexen Wirtschaftsstrafverfahren oder grossen Korruptionsfällen müssen Anklageschriften einerseits detailliert genug sein, um alle relevanten Tatbestände abzudecken, andererseits aber auch so strukturiert und präzise formuliert werden, dass sie für das Gericht und die Verteidigung verständlich bleiben. Eine zu breite oder zu vage Formulierung kann dazu führen, dass das Verfahren erheblich verzögert oder sogar neu aufgerollt werden muss.
  • Bedeutung der Verfahrensstrategie: Der Fall zeigt, dass nicht nur die Beweisführung, sondern auch formale Aspekte wie die Qualität der Anklageschrift entscheidend sind. Die Verteidigung kann durch geschickte Anfechtung der Anklageschrift Verzögerungen im Verfahren bewirken.
  • Effizienz der Justiz im Fokus: Die langwierigen juristischen Auseinandersetzungen im Fall Pierin Vincenz verdeutlichen die Notwendigkeit einer effizienteren Gestaltung von Strafverfahren, um jahrelange Verfahrensverzögerungen zu vermeiden. Effizienz in der Justiz bedeutet nicht die Kürzung von Verteidigungsrechten, sondern eine kluge Strukturierung des Verfahrens.
  • Öffentliche Wahrnehmung der Justiz: Der Fall Pierin Vincenz hat gezeigt, dass komplexe Wirtschaftsverfahren mit bekannten Persönlichkeiten oft grosses mediales Interesse wecken. Dies kann den Druck auf die Justiz erhöhen, transparent und nachvollziehbar zu arbeiten.

Autor: Manuel R. Zweifel-Neval

Manuel Zweifel ist Rechtsanwalt lic. iur. HSG, Betriebsökonom und Strafverteidiger. Er arbeitet in seiner eigenen Anwaltskanzlei THEMIS in einer zürcherischen Vorortsgemeinde und ist unter anderem spezialisiert auf Wirtschaftsstrafrecht. Er verteidigt in seiner Tätigkeit Personen in wirtschaftsstrafrechtlichen Verfahren.

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