17. November 2025

Financial Crime,

Wirtschaftsrecht

Aktivistische Leerverkäufe und Marktmanipulation – Das Beispiel Hindenburg Research vs. Temenos

Aktivistische Leerverkäufe und Marktmanipulation – Das Beispiel Hindenburg Research vs. Temenos

Von Loris Baumgartner und Denis Loher

Als Hindenburg Research im Februar 2024 den Schweizer Softwarekonzern Temenos ins Visier nahm, stürzte dessen Aktienkurs um fast dreissig Prozent – und mit ihm geriet eine Grundfrage des Kapitalmarktrechts ins Rampenlicht: Wo endet legitime Marktaufklärung, und wo beginnt strafbare Manipulation?

Aktivistische Short-Seller wie Hindenburg Research agieren zugleich als Kritiker und Akteure des Marktes: Sie enthüllen vermeintliche Missstände – und profitieren vom Vertrauensverlust, den sie selbst erzeugen. Der Beitrag analysiert anhand des Falls Hindenburg Research vs. Temenos, wie das schweizerische Finanzmarktstrafrecht, insbesondere Art. 155 FinfraG, diese doppelte Rolle rechtlich einordnet und wo die Grenze zwischen Information und Irreführung verläuft.

Der Fall Hindenburg Research vs. Temenos

Am 15. Februar 2024 veröffentlichte die US-amerikanische Investmentfirma Hindenburg Research (nachfolgend «Hindenburg«) einen Bericht über das Genfer Softwareunternehmen Temenos. Darin warf Hindenburg dem an der SIX Swiss Exchange kotierten Konzern schwerwiegende Unregelmässigkeiten in der Rechnungslegung vor – darunter künstlich aufgeblähte Umsätze, rückdatierte Verträge und die übermässige Aktivierung angeblich nicht vorhandener F&E-Kosten. Zeitgleich legte Hindenburg offen, grosse Short-Positionen auf die Temenos-Aktie zu halten. Innerhalb weniger Stunden nach Veröffentlichung des Hindenburg-Berichts brach der Temenos-Kurs um fast dreissig Prozent ein – eine der markantesten Kursreaktionen an der SIX der letzten Jahre. Der Bericht löste weltweite Aufmerksamkeit aus, erschütterte den Schweizer Finanzplatz und brachte erstmals einen global agierenden Short-Seller ins Zentrum einer hiesigen Marktmanipulationsdebatte.

Temenos bestritt die erhobenen Vorwürfe umgehend und beauftragte eine unabhängige Untersuchung durch externe Berater. Der im April 2024 von Temenos veröffentlichte Prüfbericht bezeichnete die Behauptungen von Hindenburg als «ungenau oder irreführend». Hindenburg hingegen hielt seinerseits an seiner Einschätzung fest und verteidigte das Vorgehen als Beitrag zur Markttransparenz. Im Ergebnis steht deshalb nicht nur ein Unternehmen, sondern der Mechanismus kapitalmarktrechtlicher Wahrheitsfindung selbst auf dem Prüfstand.

Der Fall hat Signalwirkung: Temenos gehört als Mid-Cap Aktie durchaus zum Marktkern, Kursstürze dieser erheblichen Grössenordnung tangieren das Vertrauen in die Integrität des Börsenplatzes insgesamt. Der Konflikt offenbart zugleich ein strukturelles Dilemma moderner Kapitalmärkte. Diese beruhen auf Information als zentralem Steuerungsmechanismus – Preise spiegeln die aggregierten Erwartungen aller Marktteilnehmer und fungieren als kollektiver Wahrheitsindikator. Das Finanzmarktrecht baut auf dieser Funktionsannahme auf: Nur wenn die Preisbildung unverzerrt erfolgt, kann der Markt Kapital effizient allozieren und Fehlentwicklungen korrigieren.

In der Realität bestehen jedoch dauerhafte Informationsasymmetrien, wie sie die Principal-Agent-Theorie beschreibt. Emittenten verfügen naturgemäss über bessere Kenntnisse ihrer finanziellen Lage als Investoren. Das Recht reagiert darauf mit Transparenzpflichten – insbesondere in der Rechnungslegung und Ad-hoc-Publizität –, um den Informationsvorsprung des Managements auszugleichen. In diesem System übernehmen Research-Häuser und Analysten eine intermediäre Rolle: Sie sollen Informationslücken schliessen und die Preisinformationseffizienz stärken. Doch genau hier beginnt das Spannungsfeld, in dem sich aktivistische Short-Seller wie Hindenburg bewegen – zwischen Aufklärung und Beeinflussung, zwischen Markttransparenz und Marktmanipulation.

Ökonomischer und praktischer Hintergrund

Leerverkäufe («short sales») sind ein im Grundsatz legitimes und für die Funktionsfähigkeit moderner Kapitalmärkte essenzielles Marktinstrument. Der Short-Seller spekuliert nicht wie gewöhnlich auf steigende, sondern auf fallende Kurse. Technisch geschieht dies durch die vorübergehende Leihe von Aktien, die am Markt verkauft und später – idealerweise zu einem tieferen Preis – zurückgekauft werden, um sie dem Verleiher zurückzugeben. Der Gewinn des Short-Sellers ergibt sich aus der Preisdifferenz abzüglich der Leihgebühr; bei steigenden Kursen entsteht entsprechend ein Verlust.

In der ökonomischen Theorie gilt das Short-Selling als integraler Bestandteil effizienter Märkte. Es ermöglicht, dass auch negative Informationen und pessimistische Erwartungen in die Preisbildung einfliessen und wirkt so überbewerteten Kursen entgegen. Dadurch reduziert es Informationsasymmetrien und trägt zur Informations- und Preiseffizienz bei. Gleichzeitig erhöht Short-Selling die Marktliquidität, da zusätzliche Verkaufsaufträge die Tiefe des Orderbuchs vergrössern. In risikotheoretischer Hinsicht erlaubt es zudem die gezielte Absicherung («Hedging») von Positionen, etwa durch den Aufbau von Short-Positionen in einem Branchentitel zur Neutralisierung systematischer Risiken («Beta-Hedge»).

Rechtspolitisch wird diese Funktion von den meisten Aufsichtsbehörden anerkannt: Die IOSCO (International Organization of Securities Commissions) sowie die ESMA (European Securities and Markets Authority) betonen in ihren Leitlinien, dass Leerverkäufe zur Preisstabilität und zur Entdeckung korrekter Marktpreise beitragen können – vorausgesetzt, sie erfolgen transparent und gedeckt, was bedeutet, dass die Finanzierung der Rückgabe der geliehenen Aktie garantiert ist. In der Schweiz ist das Short-Selling dementsprechend erlaubt, jedoch nur in sogenannter «gedeckter» Form. An der SIX Swiss Exchange darf also nur leerverkaufen, wer die rechtzeitige Lieferung der entsprechenden Aktien sicherstellen kann. Ungedeckte («naked») Leerverkäufe ohne Lieferabsicherung sind gemäss SIX Directive 3, Art. 25 Ziff. 2 ausdrücklich unzulässig. Diese Regel dient dem Schutz der Marktintegrität, indem sie exzessive oder manipulative Verkaufsdrucksituationen («short squeezes») verhindert.

Gleichwohl birgt das Short-Selling systemische Risiken, insbesondere bei koordinierten oder publikumswirksamen Kampagnen, die über reine Markterwartungen hinausgehen. In solchen Fällen droht eine selbstverstärkende Dynamik: Die Ankündigung oder Veröffentlichung negativer Analysen kann einen Kurssturz auslösen, der wiederum den Short-Sellern Gewinne verschafft und den Eindruck ihrer «Treffsicherheit» bestätigt. Diese Rückkopplung – ökonomisch als self-fulfilling prophecy oder Reflexivity beschrieben – steht im Zentrum der rechtlichen Diskussion um aktivistisches Short-Selling.

Das aktivistische Short-Selling stellt eine Sonderform dar, die sich zwischen klassischem Investmentresearch und strategischer Marktkommunikation bewegt. Der Investor agiert nicht mehr passiv, sondern als aktiver Informationsproduzent. Typischerweise beginnt der Prozess mit einer intensiven Analysephase, in der das Zielunternehmen auf bilanzielle Schwächen, Corporate-Governance-Mängel oder operative Unregelmässigkeiten untersucht wird. Die Recherche kann sich auf öffentlich zugängliche Quellen, Interviews mit (ehemaligen) Mitarbeitenden oder eigene Modellschätzungen stützen.

Nach Abschluss der Analyse wird eine Short-Position aufgebaut – häufig über derivativ strukturierte Instrumente (z. B. Optionen, CFDs) – und der Bericht gezielt publiziert. Ziel ist, eine Marktreaktion auszulösen, die die Bewertung des Unternehmens nach unten korrigiert und damit den eigenen Short-Positionen zum Erfolg verhilft. Die Veröffentlichung des Analyseberichts ist damit nicht nur Begleiterscheinung, sondern integraler Bestandteil der Anlagestrategie.

Ein prominenter Vertreter dieses Modells war bis zu Beginn dieses Jahres Hindenburg, gegründet 2017 vom US-Analysten Nate Anderson. Das Unternehmen bezeichnete sich als Anbieter forensischer Finanzanalysen, der Bilanzbetrug und irreführende Unternehmensdarstellungen aufdecken wollte. Charakteristisch war, dass Hindenburg bei Veröffentlichung seiner Berichte in der Regel bereits Short-Positionen in den betroffenen Titeln hielt – ein Umstand, den das Unternehmen offenzulegen pflegte.

Hindenburgs Berichte zeichnen sich durch grosse Detailtiefe, investigative Sprache und einen moralischen Anspruch der Aufdeckung aus. Internationale Aufmerksamkeit erlangte die Firma mit Enthüllungen zu Nikola Corporation (2020), wo fingierte Technologiedemonstrationen aufgedeckt wurden und der Gründer später strafrechtlich verurteilt wurde; zur Adani-Gruppe (2023), deren angebliche Bilanzmanipulationen zu Kursverlusten in zweistelliger Milliardenhöhe führten; sowie zur Tingo Group (2023), einem nigerianischen Fintech, dem Hindenburg fingierte Umsätze und erfundene Geschäftsaktivitäten vorwarf – woraufhin US-Behörden Ermittlungen aufnahmen.

Hindenburg verstand sich als Watchdog der Kapitalmärkte, dessen Berichte Transparenz schaffen sollten. Tatsächlich folgten auf mehrere Berichte regulatorische Untersuchungen oder Gerichtsverfahren. Gleichwohl zeigen andere Fälle wie Temenos, dass unabhängige Prüfungen Teile der Vorwürfe als ungenau, aus dem Kontext gerissen oder überzeichnet bewerteten.

Rechtlicher Rahmen in der Schweiz

Das Verhalten aktivistischer Short-Seller bewegt sich an der Schnittstelle von Kapitalmarkt- und Strafrecht. Ihr Vorgehen kann je nach Wahrheitsgehalt und Marktwirkung verschiedene Tatbestände des Finanzmarktinfrastrukturgesetzes (FinfraG) berühren. Zentral sind die Vorschriften zum Marktmissbrauch: Während Art. 143 FinfraG als aufsichtsrechtliche Generalklausel die Marktintegrität schützt und der FINMA ermöglicht, gegen irreführende oder täuschende Verhaltensweisen verwaltungsrechtlich vorzugehen, normiert Art. 155 FinfraG die strafrechtliche Marktmanipulation. Diese Bestimmung erfasst das vorsätzliche Verbreiten falscher oder irreführender Informationen mit dem Ziel, den Marktpreis zu beeinflussen, und bedroht solche Handlungen mit Freiheits- oder Geldstrafe. Sie markiert damit die Schwelle zwischen aufsichtsrechtlich relevantem Handeln und strafbarer Marktbeeinflussung.

Im Folgenden steht Art. 155 FinfraG im Mittelpunkt der Analyse – als Kernnorm, die das aktive Eingreifen in die Preisbildung durch Täuschung sanktioniert und die Grenze zwischen legitimer Marktaufklärung und strafbarer Manipulation zieht.

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Schlussfolgerung

Art. 155 FinfraG konkretisiert das Spannungsfeld zwischen Informationsfreiheit und Marktintegrität. Die Norm schützt die Preisbildung als kollektiven Wahrheitsmechanismus des Marktes, ohne die Marktkommunikation als solche zu beschränken. Eingriffspunkt ist nicht die unrichtige Meinung, sondern die strategische Irreführung – die gezielte Aussendung falscher oder täuschender Signale über den Wert eines Finanzinstruments. Während Rechnungslegungs- und Publizitätspflichten die Informationsasymmetrie zwischen Emittent und Anleger abbauen sollen, richtet sich Art. 155 FinfraG an Akteure, die den Informationsfluss selbst manipulativ nutzen. Der Markt soll durch Information zur Wahrheit finden, zugleich aber vor der Instrumentalisierung der Information als Täuschungsmittel geschützt werden. Entscheidend ist nicht die technische, sondern die normative Trennlinie zwischen «guter» und «schlechter» Informationsproduktion – sie hängt vom Wahrheitsgehalt, der Kommunikationsabsicht und der Einbettung in den Marktprozess ab.

Im Kontext aktivistischer Short-Reports zeigt sich dieser Konflikt exemplarisch. Solche Akteure agieren formal im Dienste der Transparenz, tatsächlich jedoch mit asymmetrischem Eigeninteresse: Sie profitieren vom Kurszerfall, den ihre Mitteilung selbst auslösen soll. Das Informationssystem wird damit reflexiv – der Informationsproduzent ist zugleich Marktakteur. Die Grenze zwischen legitimer Analyse und manipulativer Kommunikation verschwimmt, weil «Wahrheit» im Markt kaum eindeutig feststellbar ist. Finanzinformationen beruhen auf Annahmen, Prognosen und Wertungen, die naturgemäss im Graubereich zwischen Fakt und Interpretation liegen. Gerade diese epistemische Unschärfe macht die juristische Beurteilung so anspruchsvoll: Der Markt darf sich irren – aber nicht getäuscht werden. Es gilt, dieses Gleichgewicht zu wahren. Eine Überkriminalisierung würde die Markttransparenz hemmen, eine Unterregulierung die Integrität der Preisbildung gefährden. Notwendig bleibt ein duales System: Die FINMA sichert mit Art. 143 FinfraG die Aufsichtsintegrität, während Art. 155 FinfraG jene Fälle sanktioniert, in denen Täuschung selbst zum Geschäftsmodell wird. Am Ende zeigt der Fall Hindenburg vs. Temenos: Der Markt darf debattieren, spekulieren, auch irren – aber nicht getäuscht werden. Entscheidend ist nicht, ob eine Information gefällt, sondern ob sie redlich, sachgerecht und in Wahrhaftigkeit verbreitet wird. Nur wo dieser Standard gewahrt ist, kann der Kapitalmarkt seine zentrale Funktion erfüllen und Wahrheit durch Wettbewerb erzeugen. Wo Märkte Wahrheit suchen, darf Täuschung kein Geschäftsmodell sein.

Autor: Loris Baumgartner

Loris Baumgartner ist Strafverteidiger. Er ist als Rechtsanwalt bei Wenger Vieli insbesondere in den Bereichen Wirtschaftsstrafrecht, interne und regulatorische Untersuchungen und Compliance tätig. Vor seiner Tätigkeit bei Wenger Vieli war er unter anderem bei der Bundesanwaltschaft, Abteilung für Wirtschaftskriminalität, tätig. Loris Baumgartner berät und vertritt regelmässig Klienten im Bereich des Finanzmarktstrafrechts

Autor: Denis Loher

Denis Loher ist seit April 2025 als Substitut bei Wenger Vieli in Zürich tätig. Im Rahmen seines einjährigen Praktikums sammelt er die praktische Erfahrung für die Anwaltsprüfung. Zuvor studierte er Law and Economics an der Universität St. Gallen (HSG) und war am dortigen Institut für Law and Economics (ILE-HSG) mit einem Fokus auf Gesellschafts- und Finanzmarktrecht tätig.

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