2. September 2024

Wirtschaftskriminalistik

Überschuldung und (kreative) Bilanzierungspraxis

Überschuldung und (kreative) Bilanzierungspraxis
Finanzierung

Von Susanne Grau und Prof. Dr. Marco Passardi

Bei drohender Überschuldung muss in gewissen Fällen eine handelsrechtliche Bilanz je zu Fortführungs- und Liquidationswerten erstellt werden. Die sehr offene Regulierung führt dazu, dass rechtliche und betriebswirtschaftliche Perspektiven vermischt werden und strafrechtlich relevante Bilanzfälschung und legale Bilanzkosmetik fliessend ineinander übergehen. Wie ist die gesetzliche Bestimmung umzusetzen und welche Bilanzierungsformen sind als eher «kreativ» zu beurteilen?

Art. 725b OR ist nicht nur im Rahmen des Jahresabschlusses, sondern während des ganzen Geschäftsjahres von besonderer Bedeutung. Nur schon eine «begründete Besorgnis» einer möglichen Überschuldung kann, losgelöst vom ansonsten üblichen Bilanzstichtag, die Pflicht zur Erstellung eines Zwischenabschlusses (vgl. Art. 960f OR) auslösen. Speziell an diesem Zwischenabschluss ist zudem, dass eine Bewertung je zu Fortführungs- und Liquidationswerten zu erfolgen hat. Zu beachten ist in der Praxis, dass nicht (nur) eine Zwischenbilanz, sondern ein (ganzer) Zwischenabschluss zu erstellen ist – diese Neuerung gilt seit dem 1.1.2023, ist aber oftmals noch nicht in der Praxis angekommen.

Berechnungsbeispiel zur Überschuldung

Je zu Fortführungs- und Liquidationswerten sind die Netto-Aktiven zu bestimmen. Sofern einer der beiden Werte einen Aktivenüberschuss anzeigt, liegt keine Überschuldung vor. Trotz möglicher bewertungsmässiger Differenzen im Rahmen der Neubewertung bei der Liquidationsbilanz wird auf die Abgrenzung latenter Steuern regelmässig verzichtet. Das blosse Vorliegen einer Überschuldung (analog auch Kapitalverlust, vgl. Art. 725a OR) stellt keinen Gesetzesverstoss dar. Ein Gesetzesverstoss (Art. 728c Abs. 1 OR) seitens der Gesellschaft liegt hingegen vor, wenn es unterlassen wird, Massnahmen zu ergreifen, um die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft sicherzustellen oder den Kapitalverlust bzw. die Überschuldung zu beseitigen, einen Zwischenabschluss zu erstellen oder den Richter zu benachrichtigen.

BezeichnungBetrag
Aktiven10`200
Fremdkapital excl. Covid-Kredit10`000
Covid-Kredit500
Darlehen mit Rangrücktritt1`000
Netto-Aktiven-800

Im vorliegenden Fall ist das Fremdkapital mit 11’000 (exkl. Covid-Kredit von 500) um 800 grösser als die Aktiven von 10’200. Das mit einem Rangrücktritt versehene Darlehen ändert an der Berechnung der Höhe der Überschuldung nichts, vermag aber die gesetzlichen Folgen (temporär) zu unterbrechen. Indem der Verwaltungsrat die Benachrichtigung des Richters unterlassen kann, gewinnt er Zeit, die Gesellschaft zu sanieren und die Krise zu beseitigen. Dabei gilt es zu beachten, dass Unternehmen bei drohender Überschuldung dazu tendieren, ihre Vermögens- und Ertragslage besser darzustellen, als sie in Tat und Wahrheit ist. Es soll verhindert werden, dass die unternehmerische Schieflage gegenüber Shareholdern und Stakeholdern sichtbar wird. Solange die Eingriffe im gesetzlichen Rahmen bleiben, spricht man von erlaubter Bilanzkosmetik oder Bilanzpolitik. Bleibt die Situation hoffnungslos besteht die Gefahr, dass Unternehmen «bilanzkosmetische Kunstgriffe» anwenden, um den Ernst der Lage zu vertuschen.

Bilanzoptimierung bei Überschuldung

Wenn Unternehmen gestalterischen Erfindergeist entwickeln, können Vorgehensweisen entstehen, die nicht mehr erlaubt sind. Erfahrungsgemäss erstrecken sich die unerlaubten Vorgehensweisen auf die folgenden Bereiche der Buchführung und Rechnungslegung:

  • Fiktive Erträge
  • Unerlaubte zeitliche Abgrenzungen
  • Unerlaubte Bewertungen von Aktiven
  • Verheimlichte Schulden und Aufwendungen
  • Unvorschriftsmässige Offenlegungen

Die absichtliche unerlaubte Bilanzmanipulation kann strafrechtliche Folgen nach sich ziehen. Sie wird in der Schweiz als Urkundenfälschung gem. Art. 251 StGB geahndet, weil die Jahresrechnung mit all ihren Bestandteilen strafrechtlich gesehen eine Urkunde darstellt, deren inhaltliche Wahrheit geschützt ist (ständige Rechtsprechung, BGE 141 IV 369). Dieser strafrechtliche Schutz gewinnt in Krisensituationen, wie beispielsweise einer Überschuldung, an Bedeutung, weil sich die Gläubiger auf die Richtigkeit der Zahlen verlassen müssen. Insbesondere auch dann, wenn es sich um eine freiwillig geführte kaufmännische Buchhaltung handelt.

Der «Dritte, der sich ein Bild von der wirtschaftlichen Lage eines Geschäfts machen möchte [ … ] muss sich auf die Angaben in der kaufmännischen Buchhaltung verlassen können, ob sie freiwillig geführt werde oder nicht» (BGE 125 IV 17).

Auch auf Zwischenabschlüsse soll man sich verlassen können. So muss beispielsweise die Käuferin eines Unternehmens auf die Richtigkeit einer Zwischenbilanz vertrauen dürfen, welcher der Berechnung des Kaufpreises zugrunde gelegt wird (BGer 6B_827/2010, E. 2.3.5).

Strafbare Bilanzfälschung

Die Verbuchung von Geschäftsvorfällen oder Sachverhalten, die klarerweise nicht stattgefunden haben, ist strafbar. Das gleiche gilt für Aktiven, die klarerweise überbewertet und Passiven, die klarerweise unterbewertet sind, weil dadurch die für die Wahrheit massgebenden Grundsätze der Vollständigkeit und Verlässlichkeit der Rechnungslegung verletzt werden (Art. 958c Abs. 1 OR). Davon ausgenommen sind die stillen Reserven. Schliesslich sind alle Informationen relevant, deren Weglassen oder Falschdarstellung die Adressaten der Jahresrechnung in ihren Entscheiden beeinflussen können. Betrachten wir die Handlungen eines Finanzchefs, der nach Möglichkeiten sucht, eine drohende Überschuldungssituation in der Bilanz zu verhindern.

Verbotene Manipulationen des Umsatzes und der Forderungen

Der Finanzchef sucht nach Lösungsansätzen und überlegt sich folgende Vorgehensweisen:

  1. Er verbucht einige Rechnungen an inexistente Kunden. Dadurch erhöhen sich der Umsatz in der Erfolgsrechnung und die Forderungen aus Lieferungen und Leistungen in der Bilanz.
  2. Er ändert die Altersstruktur einiger noch nicht bezahlter überfälliger Kundenforderungen ab, damit diese nicht wertberichtigt werden müssen. Er storniert einige bereits verbuchte überfällige Rechnungen und bucht sie mit einem jüngeren Datum wieder ein. Dadurch, dass er nun auf die Verbuchung der notwendigen Wertberichtigungen verzichten kann, ist die Überschuldung per Stichtag gebannt.
  3. Der Finanzchef verzichtet darauf, dubiose Forderungen als solche zu bezeichnen und sie vollständig im Wert zu berichtigen. Er will das dann gleich zu Beginn des Folgejahres nachholen, bis dahin hofft er, dass sich der Geschäftsgang bessern wird.
  4. In der Not kommt ihm die Idee, in Absprache mit befreundeten Firmen für tatsächlich stattgefundene Dienstleistungen überhöhte Rechnungen auszustellen. Schliesslich gilt Vertragsfreiheit und die Parteien, das heisst sein Arbeitgeber und die einzelnen Kunden, können miteinander abmachen, was immer sie wollen. Es besteht ein gegenseitiger übereinstimmender Wille. Im Folgejahr würde er das wieder mit Gutschriften korrigieren.

Obschon die Handlungen des Finanzchefs der Rettung des Unternehmens dienen sollen, sind sie fragwürdig und widersprechen den Grundsätzen ordnungsmässiger Buchführung und Rechnungslegung. Seien es die Verbuchung fiktiver Erträge (Varianten 1 und 4) oder die unerlaubte zu hohe Bewertung von Aktiven (Varianten 2 und 3). Wenn der Konkurs eintritt, muss zudem nicht nur eine Bestrafung wegen Bilanzfälschung resp. Urkundenfälschung, sondern auch wegen Konkursverschleppung gefürchtet werden.

Der vollständige Beitrag «Überschuldung gemäss Art. 725b OR – Erfahrungen aus der (kreativen?) Bilanzierungspraxis» ist im TREX Der Treuhandexperte 4/2024 erschienen.

Autorin: Susanne Grau

Susanne Grau ist verantwortlich für den Themenbereich Wirtschaftskriminalistik, Dozentin und Projektleiterin am Institut für Finanzdienstleistungen Zug IFZ der Hochschule Luzern sowie Inhaberin und Geschäftsführerin der SUSANNEGRAU Consulting GmbH. Sie amtet als Vizepräsidentin von SwissAccounting und Verwaltungsrätin der Controller Akademie AG. Zudem ist sie Vorstandsmitglied der Schweizerischen Expertenvereinigung zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität SEBWK und des ACFE Switzerland Chapters.

Autor: Prof. Dr. Marco Passardi

Prof. Dr. Marco Passardi ist Professor für Accounting an der Hochschule Luzern. Er wirkt als Dozent am Institut für Finanzdienstleistungen Zug der Hochschule Luzern und ist Lehrbeauftragter der Université de Neuchâtel und der ETH Zürich. Er verfügt über mehrjährige Erfahrungen als Verwaltungsrat, u.a. bei der von der Finanzmarktaufsicht (FINMA) mandatierten der FINcontrol Suisse AG. Zudem wirkt er als Gutachter für Fragestellungen der OR-, Swiss GAAP FER- und IFRS-Rechnungslegung. Er ist seit über 20 Jahren bei EXPERTsuisse engagiert und leitet dort die Ausbildung der angehenden Auditors im Bereiche internationale Rechnungslegung nach IFRS.

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