Eine angehende Zollbeamtin schaut sich einen Fahrer und die Ladung seines Lastwagens genau an. Die Frachtpapiere und der Pass des Fahrers sind in Ordnung, doch stimmt auch alles mit der Ware? Die Zöllnerin öffnet den Frachtraum und schiebt Kisten mit Werkzeugen zur Seite. Weiter hinten stösst sie auf einige auffällige Kartons. Darin entdeckt sie: Viagra. Die Anwärterin muss jetzt genau überprüfen, ob die Ware in den Kartons korrekt deklariert wurde und mit dem Lieferschein übereinstimmt. Findet sie Unstimmigkeiten, lehnt sie die Einfuhr ab.
So oder ähnlich sieht die virtuelle Ausbildung von Zoll-Mitarbeitenden im neuen Prototyp des Immersive Realities Research Labs (IRRL) aus: Forschende der Hochschule Luzern (HSLU) haben dieses entwickelt. Ihr Ziel: ein immersives Trainingssystem, das komplexe Zollprozesse wirklichkeitsnah nachbildet, Fehler zulässt – und daraus das Lernen ermöglicht.
Schneller bereit für die echte Arbeit – dank spielerischen Übungen
Echte Zollkontrollen sind komplex und schwer zu üben. Das neue Training mit Virtual Reality (VR) bietet Raum für spielerisches und konzentriertes Lernen. Hierfür haben die Forschenden des IRRL ein Spiel entwickelt, das Grenzkontrollen realistisch nachstellt. Ziel ist, dass neue Mitarbeitende beim Zoll mit dem Spiel schneller fit werden für die Praxis.
In der virtuellen Umgebung befindet sich ein kleines Büro und ein grösseres Aussenareal, in dem Mittarbeitende des Zolls verschiedene Trainingssituationen simulieren. Die VR-Station fühlt sich nicht wie ein Spiel an, sondern wie ein echter Arbeitsplatz. Das macht den Unterschied – gerade bei herausfordernden Aufgaben wie der Dokumentenprüfung.
Den Anstoss zu diesem Prototyp gab eine ehemalige CAS-Teilnehmerin der HSLU Informatik: Christine Vetsch entwickelte im Rahmen des CAS Augmented & Virtual Reality Business Integration das Konzept für die virtuelle Zoll-Umgebung. Ihre Vision: den Ausbildungsalltag durch moderne Technologien verbessern.
Forschende des IRRL setzten Christine Vetschs Idee zusammen mit dem Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) in die Tat um. Sie entwickelten eine virtuelle Zollstation in den Alpen. Diese verfügt über ein Büro, eine LKW-Rampe und eine Zufahrt für Autos. Alles beruht auf echten Beobachtungen. In dieser Station erleben die spielerisch Lernenden Situationen, in denen sie geistesgegenwärtig Entscheidungen fällen müssen – auch diese möglichst nah an der Realität
Projektleiter, Professor und Pionier für Game-based Learning
André Thomas ist Professor an der Hochschule Luzern – Informatik und leitet das Projekt rund um das VR-Zollspiel. Er gilt international als Pionier im Bereich Game-based Learning. Zuvor leitete er zehn Jahre lang das LIVE Lab an der Texas A&M University und war dort Associate Professor of the Practice für Game Design.
Mit seinem in den USA basierten Unternehmen Triseum entwickelte er mehrfach ausgezeichnete Lernspiele. Als Sprecher begeisterte er auf internationalen Bühnen wie TEDx, SXSW, ASU+GSV oder BETT.
Seine Leidenschaft: Lernen neu denken – mit Spiel, Sinn und Substanz.
«Es war sehr wichtig, die Balance zu finden zwischen Spiel und Arbeit», sagt André Thomas, Co-Head Immersive Realities Research Lab und Projektleiter für das Applied Game der Zollbehörden. «Das Spiel darf nicht zu spielerisch sein, sonst nehmen die Trainierenden es nicht ernst. Es darf aber auch nicht zu wenig Spiel dabeihaben, sonst wird es langweilig und die Trainierenden benutzen es nur einmal.»
Ziel seines Teams war, etwas zu entwickeln, das die Trainierenden jeden Tag freiwillig nutzen, weil sie Spass daran haben. Zugleich sollen sie dabei das lernen, was ihnen am Arbeitsplatz tatsächlich hilft.
Das BAZG ist eine Behörde der Schweizerischen Eidgenossenschaft und ist dem Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD) unterstellt. Es ist zuständig für:
Das BAZG entstand 2022 aus der Zusammenführung von Zollverwaltung und Grenzwachtkorps im Rahmen der Weiterentwicklung des Schweizer Grenzmanagements. Es beschäftigt rund 4’500 Mitarbeitende und ist im Inland, an den Grenzen sowie im Ausland tätig.
In dieser digitalen Welt prüfen die TeilnehmendenPersonendokumente, kontrollieren Produkte und untersuchen Dokumente. Jede ihrer Taten hat Folgen. Wer die richtigen Entscheidungen trifft, kommt im Spiel voran. Falls man Fehler begeht, lernt man daraus. Das Spiel bietet Punkte, Levels, Fortschritte, wodurch es zum Lernen anspornt.
Ein Schwerpunkt liegt bei der Prüfung von Dokumenten. Das IRRL-Team hat echte sowie gefälschte Ausweise im Spiel eingesetzt. Das vollständige Spiel soll mit Informationen aus mehr als 190 Ländern in die Simulation ausgebaut werden. Fachleute halfen dem Team, zweckmässige Fälschungen zu erstellen. Auf diese Weise üben die Teilnehmenden, genau hinzusehen.
Applied Game ist ein Spiel, das für einen klaren praktischen Zweck entwickelt wird. Es vermittelt Wissen oder übt Verhalten in einem konkreten Arbeitsfeld. Die Nutzenden trainieren damit reale Fertigkeiten. Die Spielmechanik motiviert, das Lernziel steht im Zentrum. Ein Applied Game ist eine spezielle Form des Serious Games. Ein Beispiel ist ein Virtual-Reality-Training für angehende Mitarbeitende am Zoll.
Ein Serious Game ist jedes Spiel mit ernsthaftem Lern- oder Trainingsziel. Es nutzt Spielregeln und Geschichten, um Wissen, Fähigkeiten oder Einstellungen zu fördern. Der Spass zieht die Spielenden an, doch der Inhalt soll ihnen etwas beibringen. Beispiele reichen von Gesundheits-Spielen bis zu Management-Simulationen.
VR ist die Abkürzung von «Virtuelle Realität» oder auf Englisch «Virtual Reality». Die Nutzenden tauchen dabei in eine vollständig digital erstellte Umgebung ein. Diese Technologie hat sich in den letzten Jahren schnell entwickelt. Sie wird nicht nur in der Spiele- und Unterhaltungsindustrie eingesetzt, sondern auch in diversen Branchen wie Maschinenindustrie, Gesundheitswesen und Architektur. So können Teilnehmende etwa in einer virtuellen Trainingsumgebung Handgriffe auf sichere und effiziente Art und Weise üben. Oder ein Designteam erlebt ein neues Produkt in der virtuellen Betrachtung «wie in echt».
AR steht für «Augmented Reality», zu Deutsch «Erweiterte Realität»: Dank AR-Technologie können die Nutzenden ihre Realitätswahrnehmung erweitern. Dabei überlagern virtuelle Informationen und Objekte ihre reale Welt. So können Hörgeschädigte zum Beispiel in einem Theater eine AR-Brille aufsetzen, die ihnen die gesprochenen Texte schriftlich einblendet.
MR bedeutet «Mixed Reality» und wird sehr unterschiedlich verwendet. Aus wissenschaftlicher Perspektive betrachtet umfasst sie das gesamte Spektrum zwischen der physischen Welt, in der wir leben, bis hin zur vollständig virtuellen Realität. Vielfach wird darunter aber auch eine Realität verstanden, die zwischen Virtual und Augmented Reality liegt. Auch hier wird die Realität mit virtuellen Elementen überlagert, aber diese sollen so wirken, als ob sie wirklich Teil der realen Welt wären.
In der Branche entfernt man sich jedoch immer weiter davon, AR, MR und VR separat und isoliert zu betrachten. Vielmehr sieht man sie als unterschiedliche Punkte eines Spektrums. Dies führte zu neuen Begriffsbildungen wie «XR». Dabei soll x als Variable die Gesamtheit des Spektrums ausdrücken.
Auch die Kontrolle der Waren gehört zu den Übungen. Die Teilnehmenden zählen Boxen, vergleichen Angaben in Dokumenten, entdecken verbotene Güter. In einem Szenario versteckt ein Fahrer Agrarprodukte mit verbotenen Inhaltsstoffen unter legaler Ladung. In einem anderen tauchen Medikamente auf, die nicht eingeführt werden dürfen.
Das IRRL kooperierte für das Spiel eng mit dem BAZG. Es gab Workshops, Beobachtungen an echten Zollstellen sowie Interviews. Mit dem Feedback aus der Praxis verbesserten die Forschenden die Anwendung fortlaufend. Ihre Devise: Co-Kreation auf Augenhöhe. «Wir wollen die Wünsche und Bedürfnisse unserer Partner genau verstehen, um anschliessend gut mit ihnen zu kooperieren. Unsere Forschung soll relevant sein und direkt in der Praxis angewandt werden können», sagt André Thomas. So entstand eine anpassungsfähige Lösung – zugeschnitten auf Zielgruppe, Lernsituation und den jeweiligen Kontext.
Bereits jetzt zeigt sich: Mit moderner Technologie lässt sich Wissen anschaulich vermitteln – mit Spass, Tiefgang sowie Wirkung. «Wir sind ständig dabei, zu erforschen, was morgen und übermorgen relevant sein wird. Darüber hinaus sind wir unheimlich begeistert, wenn wir mit Partnern zusammenarbeiten können, die Neues ausprobieren und neue Forschungsergebnisse in ihrer täglichen Arbeit umsetzen wollen», sagt André Thomas.
Text: Gabriela Bonin
Veröffentlicht am: 27. Mai 2025
Tag der offenen Tür im Immersive Realities Center: Schau rein am 26. August 2025 von 17:30 bis 19:00 Uhr: Du erlebst vor Ort, was immersive Technologien können. Expertinnen und Experten zeigen auf, was Augmented oder Virtual Reality in deiner Organisation bewirken können. Besucherinnen und Besucher können Hard- und Software ausprobieren. Du erfährst mehr über aktuelle Forschungsprojekte der Hochschule Luzern – Informatik. Alle Events.
Das Immersive Realities Center (IRC) der HSLU befasst sich mit immersiven Technologien. Diese ermöglichen jene technologischen Ansätze, die das Abtauchen in virtuelle Welten oder Umgebungen erlauben. Forschende entwickeln im integrierten Research Lab Prototypen und Anwendungen. Interessierte Unternehmen und Bildungsstätten aus der Region können im Showroom neue Technologien ausprobieren. Die Forschenden realisieren mithilfe von Expertinnen und Experten Projekte. Dabei greifen sie auf die Infrastruktur des Centers zurück.
Das Immersive Realities Research Lab (IRRL) der HSLU erforscht und entwickelt, wie Virtual, Augmented und Mixed Reality in Bildung, Industrie, Verwaltung und Medizin sinnvoll eingesetzt werden können. Der Fokus liegt auf nutzerzentrierten Anwendungen, Co-Creation mit Praxispartnern und einer wissenschaftlich fundierten Entwicklung. Das Ziel: immersive Erlebnisse mit echtem Nutzen, die sich nahtlos in den Alltag integrieren lassen und nachhaltige Wirkung entfalten.
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