Ein grosser Raum im Sozialunternehmen Stiftung Brändi in Horw LU. Eine Gruppe Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen bastelt an einem Tisch. Dieser ist übersät mit kleinen Kartonboxen, Leim und Stiften. Auf kleinen Zetteln sind die Logos von WhatsApp, Twint und einem Kalendertool aufgedruckt.
In diesem Co-Design-Workshop stellen sich diese Brändi-Bewohnenden ihre «Wunschboxen» zusammen. Sie sammeln ihre Wünsche an eine neuartige Event-App. Diese soll für Menschen mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen zugänglich sein. So, dass sie diese selbstständig handhaben können.
Praxisnahes, inklusives digitales Angebot
Lea Martin Kohler und Juliana Neves Abrantes nehmen ihre Wünsche und Anliegen auf. Die beiden entwickeln damit ihre gemeinsame Bachelor-Arbeit im Studiengang Digital Ideation der Hochschule Luzern – Informatik. Daraus soll die Event-App «Gomio» entstehen – ein praxisnahes Beispiel für ein inklusives digitales Angebot.

Preisgekrönte Abschlussarbeit soll für Barrierefreiheit sensibilisieren
«Digitale kognitive Barrierefreiheit ist bis jetzt in der Schweiz kaum ein Thema. Es gibt hier kein Angebot, das sich speziell an Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung richtet. Wir wollten mit unserer Arbeit sensibilisieren, bestehende Probleme aufzeigen und Lösungsideen entwickeln», erklären die Absolventinnen einige Monate später.
In der Schweiz gibt es bisher nichts Vergleichbares; kognitive Barrierefreiheit ist (noch) ein blinder Fleck.
Lea Martin Kohler und Juliana Neves Abrantes, preisgekrönte Bachelor-Absolventinnen
Inzwischen haben sie ihren Bachelor in Digital Ideation sowie den Zeix Award für ihre herausragende Abschlussarbeit erhalten. Sie zeigt, wie digitale Barrierefreiheit für Menschen mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen aussehen kann – und wie diese Zielgruppe aktiv in den Gestaltungsprozess einbezogen wird.
Die Absolventinnen haben grosses Einfühlungsvermögen gezeigt, ihre Methodik laufend angepasst und verfeinert.
Angie Born, Betreuerin der Bachelor-Arbeit und Dozentin an der Hochschule Luzern – Informatik

Genau das schätzt auch die Betreuerin der Bachelor-Arbeit: «Juliana und Lea haben eine im Design oft vernachlässigte Gruppe in den Prozess miteinbezogen», sagt HSLU-Dozentin Angie Born, «sie haben grosses Einfühlungsvermögen gezeigt, ihre Methodik laufend angepasst und verfeinert. So konnten neue Erkenntnisse sehr schön in ihr Endprodukt einfliessen.»
Betroffene möchten digital selbstständig sein
Die Motivation für das Thema war für die beiden Zentralschweizerinnen: etwas machen, das Menschen hilft, die in der digitalen Welt oft vergessen gehen. «Menschen mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen nutzen Smartphone und Internet genauso intensiv wie wir», erklären die zwei Designerinnen. Störend sei jedoch, dass sie dabei häufig auf Betreuungspersonen angewiesen seien – wegen Barrieren wie unklarer Struktur, komplizierter Interaktionen oder schwer verständlicher Sprache. Dies untergrabe die digitale Selbstständigkeit, die sich viele Betroffene wünschten.
Vertraute Muster bewusst nutzen
Was braucht es konkret, damit kognitiv beeinträchtigte Menschen sich selbstständig im digitalen Raum bewegen können? Kognitive Beeinträchtigungen, so die beiden Absolventinnen, wirkten sich unter anderem auf das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit, das Problemlösungsvermögen sowie auf das Lese- und Sprachverständnis aus. «Ein besonders interessanter Moment im Projekt war die Erkenntnis, dass wir nichts völlig Neues entwickeln mussten», erklären die beiden.
Es brauchte kein brandneues Design-Konzept. «Unsere Recherchen zeigten, dass bestehende Design-Prinzipien eine wichtige Rolle spielen – gerade weil viele Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen bereits mit bestimmten Strukturen vertraut sind und neue Designs zusätzlichen kognitiven Aufwand bedeuten würden.» Deshalb hiess das Motto für die Entwicklung von «Gomio»: keine radiale Neugestaltung, sondern vertraute Muster gezielt adaptieren.

Leichte Sprache, klare Strukturen, grosse Wirkung
Für die beiden war entscheidend, eng mit den Brändi-Bewohnenden zusammenzuarbeiten und ihre Bedürfnisse und Herausforderungen wirklich zu verstehen. Dabei wurde ihnen auch bewusst, dass Barrierefreiheit viele Seiten hat, weil die Zielgruppe sehr unterschiedliche Fähigkeiten und Erfahrungen mitbringt. Entsprechend gebe es nicht die eine Lösung, sondern viele mögliche Wege, um Teilhabe zu ermöglichen, sagen die beiden.
Designerinnen und Designer tragen die Verantwortung, digitale Angebote zu entwickeln, damit auch Menschen mit besonderen Bedürfnissen eigenständig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.
Lea Martin Kohler und Juliana Neves Abrantes, preisgekrönte Bachelor-Absolventinnen
Generell bevorzugen die Nutzenden eine einfache Gestaltung, ergänzt durch kurze Erklärungen – zum Beispiel bei einem «Weiter»-Button mit zusätzlicher Beschriftung. Geschätzt werden auch grössere Bedienelemente und hilfreiche Hinweise – zum Beispiel zur nächstgelegenen Bushaltestelle eines Eventlokals. «Das wichtigste Element war die Leichte Sprache», erklären Lea Martin Kohler und Juliana Neves Abrantes. In der Leichten Sprache werden einfache Wörter, kurze Sätze und anschauliche Beispiele verwendet. Auch eine Vorlesefunktion für längere Texte sei hilfreich – ebenso Sprach-Ein- und -Ausgabe für Menschen mit eingeschränkter Lese- und Schreibkompetenz.
«Gomio» bleibt zunächst ein Prototyp
Der Prototyp ist bereit. Die beteiligten Brändi-Bewohnenden hätten die App am liebsten sofort auf ihr Smartphone geladen. «Da mussten wir ihnen sagen, dass das leider noch nicht geht.» Können es sich die zwei Designerinnen vorstellen, «Gomio» zur Marktreife zu führen? «Vielleicht», sagen die beiden. Jetzt sammeln sie erst einmal Berufserfahrung. Später möchten sie ihr Wissen vielleicht in einer eigenen Agentur weitergeben – gerne gemeinsam, denn sie wissen: «Zusammen haben wir die besten Ideen.»
Text: Eva Schümperli-Keller
Veröffentlicht im November 2025
Designerinnen mit sozialem Bewusstsein: Lea Martin Kohler (im Bild links) und Juliana Neves Abrantes haben im Juli 2025 ihr Studium in Digital Ideation, Fokus Design mit ihrer preisgekrönten Bachelor-Arbeit erfolgreich abgeschlossen. Am Studium schätzten sie besonders, dass sie Einblick in viele verschiedene Themen wie UX, Game- und Webdesign erhielten, bevor sie sich in ihr bevorzugtes Gebiet vertiefen konnten. Sie finden: «Designerinnen und Designer tragen die Verantwortung, digitale Angebote zu entwickeln, damit auch Menschen mit besonderen Bedürfnissen eigenständig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.»
Schnittstelle zwischen Design und Informatik: Im Bachelor Digital Ideation entwickeln Studierende in interdisziplinären Teams Projekte, diee Technologie, Design und zukunftsorientiertes Denken verbinden. Sie wählen eine Spezialisierung: Informatik für technikaffine Studierende oder Design für kreative Studierende. So entstehen digitale Lösungen mit gesellschaftlichem Mehrwert. Absolventinnen und Absolventen arbeiten später als Game Designerin oder Developerin, Grafiker, UX Designerin, Interaction Designer oder Web Developerin.
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