By Ramón Christen, Gwendolin Wilke und Gabriela Bonin
Forscherinnen und Forscher der Hochschule Luzern – Informatik leisten einen nützlichen Beitrag in der Energieversorgung. Als Teil des transnationalen Projekts Power Alliance (PA) haben sie intelligente Algorithmen und einen marktbasierten Lösungsansatz entwickelt, um das Stromnetz gezielt besser zu nutzen und Kosten zu sparen.
Das ist zunehmend nötig, weil Industrie und Privathaushalte immer mehr Strom brauchen. Schon in zehn bis zwanzig Jahren werden die Verbraucherinnen und Verbraucher das Stromnetz an seine Kapazitätsgrenzen bringen. Zugleich fordern sie verstärkt eine umweltschonendere Energieversorgung ein: Die Bedeutung von Wind- und Solarenergie nimmt zu. Das Stromnetz muss aus- und umgebaut werden. Intelligente Stromnetze, sogenannte «Smart Grids», sind dabei wegweisend.
Strom aus erneuerbaren Energiequellen hat seine Tücken
Zu Spitzenzeiten, wenn die ressourcenschonenden Quellen viel Energie liefern, kommt es mit steigender Nachfrage zunehmend zu Netzüberlastungen. Dem könnte man entgegenwirken, indem man die Stromnetze ausbaut. Das wäre indes teuer und nicht klug, weil der Ausbau nur für die kurzzeitigen Spitzen genutzt würde.
Dank marktorientierter Lösung hohe Kosten vermeiden
Wie aber lassen sich teure Ausbauten vermeiden? Mit einem Ausgleich der Belastungen: Darauf hat sich ein Teil des Projektteams konzentriert, dem unter anderem Ramón Christen, der Autor dieses Beitrags, angehörten, sowie die Leiterin des Teilprojekts Gwendolin Wilke.
Um die von diesem Team vorgeschlagene Lösung zu verstehen, muss man wissen, wie intelligente Stromnetze funktionieren: In Smart Grids fliesst der Strom nicht mehr nur von zentralen Stellen zu den Verbrauchenden. Vielmehr wird er mit dem Aufkommen von Wind- und Solarkraftwerken intensiv zwischen vielen lokalen Produzenten ausgetauscht.
Die Stromquellen sind folglich viel kleiner und liegen näher bei den Verbrauchenden. Der daraus gewonnene Strom muss intelligent verteilt werden. Da die Energieproduktion ausserdem sehr von der Witterung abhängt, ergeben sich starke Schwankungen, welche durch Zwischenspeicherung ausgeglichen werden müssen.
Doch gerade diese intelligente Zwischenspeicherung und Umverteilung bietet auch neue Chancen zur Kontrolle und Steuerung des Energieverbrauchs, welche die Problematik der Netzüberlastung erheblich mindern können. Dazu hat das PA-Team ein innovatives und marktorientiertes Businessmodell entwickelt. Dieses Modell wurde auf der Basis von Pilotinstallationen und konkreten Netztopografien bei der Schenker Storen AG in Schönenwerd, bei der Nussbaum AG in Olten sowie bei der Pflege- und Betreuungsinstitution «Haus im Park» in Schönenwerd überprüft.
Energie für «unkritische» Verbraucher ist markant günstiger
So funktioniert es: Mittels intelligenter Algorithmen wird der Stromverbrauch zu Spitzenzeiten so verteilt, dass das Netz stets möglichst gleichmässig ausgelastet ist. Dazu haben die Forscherinnen und Forscher die Stromverbraucher in «kritische» und «unkritische» Verbraucher eingeteilt. Elektro-Autos, Batterien oder Power-to-Gas-Anlagen gelten als «unkritisch», weil deren Strombezug zur Not auch um einige Stunden aufgeschoben werden kann. Der Verbrauch ist auch nur wenig prozessrelevant. Für unkritische Produktionsprozesse in der Industrie heisst das: Es ist zeitlich nicht wichtig, wann der Strom genutzt wird.
Neuartige Lösung: Bestehendes Verteilnetz ohne Ausbau erweitern
Darum sieht der vom Projektteam vorgeschlagene Ansatz für diese «unkritischen» Verbraucher eine komplett neue Lösung vor: Sie sollen ihren Strombedarf künftig über das sogenannte «N-1-Band» des Verteilnetzes beziehen. Dieses N-1-Band ist ein bis heute nicht genutzter Teil des Netzes, welcher der Versorgungssicherheit dient. Es ist also redundant.
Man kann das bestehende Verteilnetz daher um die redundante Kapazität des N-1-Bands erweitern, ohne das Netz auszubauen. Das redundante Band kann jedoch nur von «unkritischen» Verbrauchern genutzt werden, da diese bei einem Netzausfall nicht versorgt werden können. Der Strombezug muss in diesem Fall um einige Stunden aufgeschoben werden, nämlich solange, bis die Störung behoben ist.
Stromkunden, welche «unkritische» Verbraucher betreiben und diese beim Verteilnetzbetreiber anmelden, profitieren von deutlich vergünstigten Netztarifen, Steuern und Abgaben. So müssen sie zwar im Störfall einen Versorgungsunterbruch dieser Verbraucher (so genannten «Lasten») erdulden, sparen aber im Normalfall markant Kosten ein. Zugleich bleibt die Versorgungssicherheit ihrer «kritischen» Lasten weiterhin unverändert gewährleistet.
Durch diesen marktbasierten Anreiz profitieren alle Beteiligten:
Das weiss man mittels Lastenvorhersagen
Es ist wichtig, dass Netzwerkbetreibende den Verbrauch und die Bedürfnisse der Endkundinnen und -kunden im Voraus kennen. Antworten darauf haben die Mathematikerinnen und Informatiker an der Hochschule Luzern – Informatik im Rahmen des PA-Projekts entwickelt: Sie haben an Modellen für eine möglichst akkurate Lastenvorhersage geforscht – mittels intelligenter Predictive-Analytics-Lösungen. So lässt sich aus historischen Lastgangaufzeichnungen bestmöglich der Energieverbrauch von Morgen ableiten. Das ermöglicht ein automatisiertes dynamisches Lastmanagement im Smart Grid.
Die Vielfalt der möglichen Ansätze dazu ist gross und reicht von einfachen statistischen Mittelwertbildungen bis hin zum Einsatz von komplexen Algorithmen. Doch genauso gross wie die Vielfalt der Ansätze ist auch die Variation der Lastgänge selbst. Dies macht es nahezu unmöglich, eine charaktertypische Lastgangkurve zu definieren, auf die ein spezifischer Algorithmus für eine bestmögliche Vorhersage angewendet werden kann.
Deshalb hat das Forschungsteam einen sogenannten Modell-Selektions-Ansatz verfolgt. Dieser ermittelt individuell für jeden Kunden die Charakteristika seiner Lastgänge. Basierend darauf wird das beste Vorhersage-Verfahren für diesen Kunden ausgewählt. Genauer erklärt wird dies in einer neuen Publikation auf der digital library SciTePress.
Einfache Berechnungen um bis das Zehnfache übertreffen
Die Vorhersageverfahren des Modell-Selektions-Ansatzes reichen von sehr einfachen «dummen» Verfahren bis zu hochkomplexen «intelligenten» Algorithmen. «Dumme» Verfahren haben den entscheidenden Vorteil, dass wenig Rechenleistung benötigt wird, um diese zu betreiben. Da sie für viele Verbraucher gute bis sehr gute Ergebnisse erzielen, werden sie schon heute von vielen Energie-Dienstleistern standardmässig eingesetzt. Dennoch gibt es einen nicht vernachlässigbaren Anteil an Verbrauchern, für welche diese einfachen Verfahren nicht greifen, sodass eine Vorhersage damit unmöglich ist. Hier kommen die intelligenten Vorhersage-Algorithmen zum Zug: Für einzelne Lastgänge können sie die einfachen Berechnungen in Punkto Genauigkeit um bis das Zehnfache übertreffen.
Auch Private profitieren
Mit dem Modell-Selektions-Ansatz können alle Vorteile verschiedenster Vorhersagemodelle genutzt werden, um auf die spezifischen Eigenschaften unterschiedlicher Lastgangkurven einzugehen und möglichst präzise Vorhersagen zu treffen. Gerade das ist für eine bessere Ausnutzung der Netzkapazität von entscheidender Bedeutung.
Je präziser die Vorhersagen sind, desto mehr Flexibilität gewinnen die Kundinnen und Kunden. Und desto besser können Verteilnetzbetreibende die Kapazität des bestehenden Netzes ausschöpfen, um unnötig hohe Kosten für einen teuren Netzausbau abzuwenden. Das Power-Alliance-Projekt zielt auf grosse Industriekunden ab, wird aber letztlich auch positive Auswirkungen auf die Endnutzerinnen und -nutzer haben.
Veröffentlicht am 20. März 2020
Über den Hauptautor: Ramón Christen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Hochschule Luzern – Informatik. Er hat unter der Leitung von Gwendolin Wilke für das PA-Projekt mathematische Forschung betrieben.
Mehr über das Power-Alliance-Projekt: Die Hochschule Luzern – Informatik ist Teil des transnationalen Demonstrationsprojekts Power Alliance (PA). Dieses erforscht unter anderem intelligente Predictive-Analytics-Lösungen für automatisiertes dynamisches Lastmanagement im Smart Grid. Das unter dem EU-Forschungsprogramm ERA-Net Smart Energy Systems laufende Projekt forschte unter der Leitung des Stromkonzerns Alpiq und wurde in der Schweiz durch das Bundesamt für Energie (BFE) gefördert. Beteiligt waren insgesamt 13 Fachkräfte, darunter Wirtschaftspartner sowie Forscherinnen und Forscher der Hochschule Luzern sowie der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Siehe dazu auch diesen Symposiumsbeitrag und die neue Publikation auf der digital library SciTePress.
Vorhersagemodelle: Der Fachbereich Predictive Analytics gewinnt verstärkt an Bedeutung und befasst sich mit der Vorhersage von Zeitreihen basierend auf mathematischen Modellen aus historischen Daten. Mit zunehmender Datenakquise wird Predictive Analytics als ein Teilgebiet von Data Science immer wichtiger. Dabei arbeitet man vermehrt mit Künstlicher Intelligenz, die Abhängigkeiten erkennt und gute Ergebnisse für die Vorhersage verspricht.
Mehr darüber lernen: An der Hochschule Luzern – Informatik lernen Sie, das Potenzial von Daten zu verstehen und Daten fürs Geschäft zu nutzen.
Intelligente Softwaresysteme: Die Forschungsgruppe Mobile & Smart Systems der Hochschule Luzern erforscht spezialisierte Prognosealgorithmen zur Verbrauchsvorhersage im Smart Grid.
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