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Freiheiten bewusst organisieren – oder: Wie führe ich eine Organisation in die Selbstorganisation? Ansatzpunkte autonomiefördernder Führung

Freiheiten bewusst organisieren – oder: Wie führe ich eine Organisation in die Selbstorganisation? Ansatzpunkte autonomiefördernder Führung

«Doch bitte verwechseln Sie >wenn niemand Ihnen sagt, was Sie tun sollen< nicht mit Führungslosigkeit. Und erst recht nicht mit Anarchie.»

Lars Vollmer 2017

Autoren: Stephanie Kaudela-Baum und Marcel Altherr

Eine radikale Verlagerung von Entscheidung und Kontrolle auf die Ebene Team bzw. Mitarbeitende ist für viele ehemals hierarchisch-zentralistisch strukturierte Organisationen ein Stresstest. Führungskräfte sehen sich zahlreichen Widersprüchen ausgesetzt. Sowohl Führende als auch Geführte sind nicht selten von den neuen Freiheiten massiv überfordert. Der Beitrag eröffnet einerseits Einblicke in den Umgang von Individuen, Teams und Führungskräften mit den entstehenden Widersprüchen mit auf Selbstorganisation basierenden Methoden und Strukturen. Andererseits liefert der Beitrag Perspektiven und Ansatzpunkte einer differenzierten, paradoxiebewussten und autonomiefördernden Führung zur Gestaltung von selbstorganisierter Arbeit. Der Beitrag zeigt auf, dass sich die zugewonnenen Freiheitsgrade im Rahmen selbstorganisierter Systeme nur unter den Rahmenbedingungen von klaren Kooperationsregeln, neuen Führungsmodellen sowie dem Willen zum kontinuierlichen Experimentieren und Lernen entfalten können.

Einführung

Immer mehr Unternehmen spüren, dass mit ihren Organisationskonzepten etwas nicht stimmt. Zwar stimmt der Gewinn, die Systeme sind optimiert, die neusten digitalen Technologien wurden implementiert und offensichtlich „funktioniert“ das Unternehmen. Und doch bleibt das ungute Gefühl, dass ein „Weiter so“ keinen nachhaltigen Unternehmenserfolg garantieren wird.

Viele Unternehmen haben sich verselbstständigt, funktionieren wie gut geölte Maschinen, liefern mehr vom Gleichen, werden aber im Zuge des Wachstums nicht schlanker, sondern bürokratischer. Jeglicher „organizational slack“ (Nohria und Gulati 1997) bzw. „Überschussressourcen“ werden zugunsten von kurzfristigen Effizienzgewinnen auf ein Mindestmaß reduziert. Gleichzeitig verändert sich das Marktumfeld laufend. Die Ansprüche der Kunden steigen, sie wollen immer rascher Innovationen und der Wettbewerbsdruck steigt. Das Thema lautet: Beschleunigung und Agilität (Teece et al. 2016).

Neben dem externen Druck setzen sich viele Unternehmen intern mit der Frage auseinander, wie sie durch mehr Selbstorganisation und kollaboratives Arbeiten das Engagement, die Motivation und das unternehmerische Verhalten ihrer Mitarbeitenden steigern können. Das Thema lautet: Autonomie und Selbstorganisation (Altherr 2019; Kaudela-Baum 2019).

Auf die Beschleunigungsanforderungen der Umwelt und die zunehmende Komplexität der Umwelterwartungen adäquat zu reagieren, fällt vielen Unternehmen zunehmend schwer (Snowden und Boone 2007). Was passiert? Entscheidungssituationen sind in vielen Unternehmen heute signifikant komplexer, dies erfordert neue Führungsverständnisse. Wer in solchen „Beschleunigungs-Unternehmen“ wie z. B. Youtube oder Netflix, deren Geschäftsmodelle sich dynamisch auf der Basis emergenter Nutzungsmuster entwickeln, führt, sieht sich häufig mit komplexen, d. h. mit mehreren überlagernden und widersprüchlichen Entscheidungsfaktoren, konfrontiert. Dabei ist die Gefahr groß, dass Führungskräfte, häufig aus Ungeduld und Sehnsucht nach Einfachheit, zurück in die traditionelle „Command-and-Control“-Führungslogik verfallen. Es sind diese alten Denkmuster, die oftmals das Scheitern gut gemeinter Initiativen zu Selbstorganisation erklären.

Viele Führungskräfte haben nach dem Besuch einschlägiger Seminare zu Selbstorganisationsmethoden wie beispielsweise „Holacracy“ (Robertson 2016) in den letzten Jahren sehr rasch radikale Wege eingeschlagen. Sowohl einzelne Mitarbeitende als auch Teams sollten sich durch Mitsprache und mit einem Zuwachs an Entscheidungsautonomie in kurzer Zeit zu Mitunternehmern entwickeln. In einem naiven Verständnis von Selbstorganisation wurden Mitarbeitende bewusst alleine gelassen und die Führungskräfte erwarteten, dass die Arbeit von den Mitarbeitenden ganz von alleine erledigt würde. Aber was ist passiert? Das genaue Gegenteil von dem, was die Führungskräfte erwartet haben. Die Mitarbeitenden waren eben nicht alle begeistert von den neuen Freiheiten, sondern viele sahen als Folge dieser Entwicklung entweder ihre Life Balance bedroht oder haben die Stelle gewechselt (Bernstein et al. 2016; Kaudela-Baum et al. 2014).

Komplexitätsmanagement und Selbstorganisation als „neue“ Führungsordnung

Rebecca Costa (2011) beschreibt diese Ohnmacht vor der Komplexität als „kognitive Schwelle“, als das Erreichen eines Wendepunktes, der die aktuellen kognitiven Fähigkeiten einer sozialen Gruppe – in diesem Falle das Management – überfordert. Ein Indikator, der laut Costa (2011) das Erreichen dieser kognitiven Schwelle erkennen lässt, ist das Aufkommen des Glaubens an übergeordnete Mächte und der Wunsch nach einem „Deus ex machina“. Die Unzahl an einfachen Rezepten von Beratungsfirmen, die Unternehmen beim Überwinden der kognitiven Schwelle der Komplexität unterstützen, kann als ein ähnliches Phänomen des Vertrauens auf höhere Mächte gedeutet werden.

Oft tendieren Unternehmen trotz zunehmender Komplexität dazu, der Stabilität Vorrang einzuräumen. Dem Aufbau dynamischer Fähigkeiten und der Entwicklung organisationaler Erneuerungsfähigkeit (Kianto 2008; Teece et al. 2016) und entsprechenden Selbstorganisationsgraden wird nur wenig Beachtung geschenkt. Führungskräfte erkennen nicht, dass Komplexität eine experimentellere Art der Führung erfordert. Warum? Weil komplexen Problemstellungen immer die Gefahr eines immanenten Scheiterns innewohnt. Wir beobachten, dass komplexe Problemstellungen oft über lange Zeiträume hinweg in den Entscheidungsgremien verbleiben. Fragen, die große Risiken beinhalten, wie beispielsweise die, ob in eine neue Software investiert werden soll oder nicht, werden bis ins Detail analysiert und abgewogen, in der Hoffnung, die „richtige“ Entscheidung fällen zu können.

Unglücklicherweise sind per definitionem Konsequenzen von Entscheidungen in komplexen Umgebungen nicht eindeutig vorhersagbar. Ein Entscheiden unter Ungewissheit ist also bis zu einem gewissen Grad vonnöten und ein Scheitern des Vorhabens nicht a priori auszuschließen. Jedoch betrachten nur wenige Unternehmen in ihrer gelebten Unternehmenskultur Fehler als Erkenntnismöglichkeit, und Fehler werden zudem oft als Versagen einzelner Führungspersonen gedeutet.

Ein wertvolles Modell für das Verstehen von Organisationen als komplexe, adaptive Systeme ist das Cynefin-Framework von Snowden und Boone (2007). Das walisische Wort „cynefin“ kann etwas unscharf als „Lebensraum“ übersetzt werden und steht sinnbildlich für das komplexe System, in dem ein Mensch sich mit seiner individuellen Erfahrung, seiner Herkunft und Tradition befindet (siehe Abbildung).

Das Cynefin- Framework (Snowden und Boone 2007)

Das Cynefin-Modell basiert u. a. auf der Theorie komplexer adaptiver Systeme (Snowden und Stanbridge 2004) und beschreibt die Beziehung zwischen Mensch, Erfahrung und Kontext und ermöglicht ein vertieftes Verständnis der Führung in komplexen Systemen. Es beschreibt vier Typen von Systemen oder Bereichen: 1) einfach, 2) kompliziert, 3) komplex und 4) chaotisch sowie einen Bereich in der Mitte zwischen den vier Feldern: die „Unordnung“.

In einem einfachen Umfeld können wir auf Routinepraktiken („best practice“) und lineare Beziehungen von Ursache und Wirkung zählen. Neue Situationen müssen nur wahrgenommen („sense“), in das vorhandene Wissensgefüge eingeordnet („categorize“) werden, so kann die richtige Antwort („respond“) abgeleitet werden. Steuerung und Kontrolle sind in diesem Umfeld kein Problem.

In einem komplizierten Umfeld sind zwar die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung nur noch für Experten verständlich und vorhersehbar, aber es lassen sich zumindest „good practices“ ableiten. Beide Bereiche, „simple“ und „complicated“, kön-nen als „geordnete Systeme“ interpretiert werden. Die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung kann durch Beobachtung und Analyse verstanden werden. Sind diese einmal entdeckt, ist jedes zukünftige Verhalten im Wesentlichen vorhersagbar. Anders verhält es sich in ungeordneten Systemen, die als „complex“ oder „chaotic“ beschrieben werden.

Der chaotische Bereich ist durch „Zufälligkeit“ geprägt. Die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung sind in keiner Weise abschätzbar, zu groß ist die Anzahl an unbekannten Faktoren und Variablen. Die einzige Möglichkeit des Handelns ist das Handeln selbst. Eine umfassende Analyse ist in diesem Kontext nicht sinnvoll. Die Intuition leitet hier Entscheidungen an. Auch die bewusste Herbeiführung chaotischer Situationen sollte hier Beachtung finden, z. B. um bewusst Freiraum zu schaffen für Innovationen, die unter kontrollierten Bedingungen niemals entstehen könnten.

Auch in komplexen adaptiven Systemen ist das Verhalten des Systems nicht mehr vorhersehbar. Das System ist auch für Experten nicht mehr durch lineare Ursache-Wirkungsbeziehungen beschreibbar, es ist durch Dynamik geprägt. Der einzig sinnvolle Umgang mit einem solchen System lautet: „probe-sense-respond“ bzw. experimentelles Vorgehen. Nur mit mehreren konkurrierenden, parallelen und durchaus auch widersprüchlichen kleinen Schritten („probe“), die in der Folge gut beobachtet werden („sense“), können gewünschte Effekte verstärkt oder ungewünschte abgeschwächt werden („respond“). Ein komplexes adaptives System entzieht sich von Natur aus jeder langfristigen Planung und Kontrolle.

Komplexität zu managen heißt also, Widersprüchlichkeiten zu akzeptieren und zu bearbeiten. Das gilt v. a. für den Widerspruch zwischen Autonomie und Kontrolle. Sich diesen Widersprüchlichkeiten zu stellen, ist ein zentrales Element des Führens zur und in die Selbstorganisation bzw. zu und in die autonomiefördernde Führung.

Selbstorganisation kann als Autonomie verstanden werden. Und Autonomie ist grundsätzlich riskant für Unternehmen. Hackman und Oldham (1980) definieren Arbeitsautonomie als das Ausmaß, indem Mitarbeitende bei der Arbeit weitgehend frei und unabhängig Entscheidungen treffen können und ihre Arbeit selbstbestimmt planen und auch die Verfahren, die bei der Ausführung anzuwenden sind, frei auswählen können. Die Betonung liegt bei dieser Definition auf „können“.

Als „neue“ Ordnung kann Selbstorganisation nur dann gelten, wenn sich Führungskräfte Kompetenzen im Umgang mit Arbeitsautonomie aneignen, ihre Mitarbeitenden befähigen, autonom zu arbeiten und sich darüber bewusstwerden, welche Form von Arbeitsautonomie sich unter welchen Bedingungen positiv auf die Gestaltung eines komplexen Systems auswirken.

Ein vertiefter Blick in die Konzeption von Arbeitsautonomie kann Führungskräfte bei der Entwicklung von Organisationen in die Selbstorganisation wichtige Ansatzpunkte zur Kompetenzentwicklung liefern.

Quelle:
Kaudela-Baum, S. & Altherr, M. (2019). Freiheiten bewusst organisieren – oder: Wie führe ich eine Organisation in die Selbstorganisation? Ansatzpunkte autonomiefördernder Führung. In O. Geramanis; S. Hutmacher (Hrsg.). Der Mensch in der Selbstorganisation (S. 125-141). Wiesbaden: Springer.

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