Von Oliver Klaffke
«In den Zeiten von James Joyce hätte in Irland kaum jemand so feudal gegessen», sagt Benjamin Haymond, während er die Speisekarte im James Joyce Pub in Zürich studiert. Haymond ist Dozent für Englisch am Departement Informatik der Hochschule Luzern.
Er lebt von der und für die englische Sprache, schreibt selbst Literatur und lebt als Englischsprachiger in der Schweiz – das sind genügend gute Gründe, um sich im James Joyce Pub zu treffen. Dieser Pub trägt den Namen des irischen Literaturnobelpreisträgers, der seine letzten Lebensjahre in Zürich verbrachte. In den kommenden knapp zwei Stunden besprechen wir die englische Literatur, die Freude am Unterrichten, die Begeisterung für die Geschichte und die Offenheit des Geistes.
Benjamin Haymond ist US-Amerikaner, Mitte vierzig, und in dem sehr ländlichen und eher armen Bundesstaat West-Virginia aufgewachsen. Seine Mutter war Hausfrau, sein Vater Arzt, der in Harvard studiert hatte – «er kannte etwa die Bushs, die Familie, aus der zwei US-Präsidenten stammen, kam aber trotzdem zurück in diese Region. Obwohl er etwas ganz anderes hätte machen können.»
Literatur ist ein wunderbares Werkzeug, um den Geist offen zu halten.
Sein Vater verstarb an einem 15. März. Das ist für Haymond an jedem 15. März jeden Jahres Anlass, Shakespeare zu lesen. Denn in seinem Drama «Julius Caesar» schilderte Shakespeare die Tyrannei Caesars und dessen Ermordung – just an den Iden des März.
Der 15. März ist sowohl ein wichtiges historisches Datum als auch ein zentrales Thema in der Literatur, das den 15. März mit dramatischen und schicksalhaften Ereignissen verbindet. Deshalb hat Shakespeare für Haymond besondere Bedeutung: Literatur als Stütze, Geschichte als Orientierung. «Sie hilft uns, das Heute zu verstehen», sagt er. Das ist ihm wichtig.
Ja, er lese sehr viel, sagt Haymond. Die Literatur sei für ihn eine Möglichkeit, andere Wirklichkeiten zu erfahren und andere Welten kennenzulernen. Sie sei ein wunderbares Werkzeug, den Geist offen zu halten.
Seine berufliche Laufbahn führte ihn aus den USA nach Europa. In Deutschland übernahm er Dozentenstellen für Englisch und lernte seine Frau kennen. Heute lebt er mit ihr in einem Dorf ausserhalb von Luzern.
Was mich interessiert, ist, die Studierenden intellektuell herauszufordern.
Als Dozent für Englisch war er immer in Fakultäten für Informatik oder Wirtschaft angestellt. Aber es geht ihm nicht in erster Linie um die Vermittlung der korrekten Grammatik. Neben der Beherrschung des Regelwerks der Sprache mit ihren Zeiten, Fällen, unregelmässigen Verben und den Feinheiten der Aussprache vermittelt Haymond auch die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen auf Englisch. «Was mich interessiert, ist, die Studierenden intellektuell herauszufordern.»
Es gehe darum, dass sie sich mit neuen Ideen und anderen Sichtweisen auf Englisch auseinandersetzen könnten. Es ist ihm wichtig, dass sie verstehen, was andere Menschen meinen. Sie sollen diese Positionen erklären und hinterfragen können. Schliesslich sollen sie auch eine eigene Haltung entwickeln.
Die Köpfe für die Welt zu öffnen, ist sein Anliegen. Ganz am Ende des Gesprächs im James Joyce Pub wird er sagen, dass dieses Öffnen der Köpfe für ihn eine bedeutsame Weiterentwicklung des eigenen Fachs «Englisch» ist. Er möchte mehr bieten als einen herkömmlichen Englischunterricht. Es geht ihm um Kultur, um das Schreiben und die Erweiterung des Horizonts.
Externes Wissen im Hörsaal: Vorträge internationaler Gastredner
Für die intellektuelle Auseinandersetzung sorgt er zum einen innerhalb seines Unterrichts und zum anderen durch die Einladung von externen Gästen zu Kolloquien und Vorträgen. «Das müsste ich nicht machen, aber ich empfinde das als sehr lohnend und spannend», sagt er. Für sich und für seine Studierenden.
Anfang des Jahres 2024 lud er den international bekannten britischen Journalisten und Afrika-Experten Tim Butcher ein. Dieser hat Bücher über seine Reise entlang des Flusses Kongo und durch Sierra Leone geschrieben. Einige Monate später, Ende Oktober, lud er den englischen Journalisten Michael Sheridan für einen Vortrag ein.
Sheridan gilt als Experte für den asiatischen Raum und schreibt für internationale Zeitungen und Zeitschriften. Anfang 2024 veröffentlichte er eine Biografie über den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping. Über diesen sprach er in Haymonds Unterricht. «Viele Studierende schätzen es, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die auf keinem Lehrplan stehen, aber trotzdem zur Bildung dazugehören», sagt Haymond.
In seinem Unterricht will er auch für ein herausforderndes intellektuelles Klima sorgen, indem er den Geist in den Mittelpunkt stellt. «Ich arbeite oft mit Artikeln aus dem <New Yorker>», sagt er. Das ist die führende US-amerikanische Zeitschrift für Politik, Kultur und Fiction, in der sich Essays neben Buchbesprechungen und Filmkritiken finden. Der New Yorker ist die Speerspitze des intellektuellen Amerikas. Die Studierenden müssen die Texte lesen, zusammenfassen und diskutieren.
Hat Haymond keine Angst, dass sich seine Studierenden lieber auf ChatGPT verlassen, statt sich selber durch Texte von zwanzig A4-Seiten zu kämpfen? «Eigentlich nicht, denn wer über den Text reden will, muss schon wissen, was drinsteht.» Es helfe, selbst zu lesen, statt die KI zu fragen, um kompetent zu werden.
Agiler Unterricht ist sehr anstrengend, macht mich aber glücklich.
Haymond liebt es, zu unterrichten. Er wisse zwar genau, was er vorhabe und in seinen Lektionen erreichen wolle, sei immer tipptopp vorbereitet, aber es käme immer anders heraus als geplant – je nachdem, wie die Interessen der Studierenden seien. «Das ist auch gut so, denn so bleibt eine Veranstaltung spannend und überraschend. Für mich und die Studierenden. Man muss ihnen Raum und Zeit zur Entfaltung geben.»
Sein didaktischer Ansatz ist einer, der an die «Agile Hochschuldidaktik» erinnert und als zukunftsweisend für modernes Unterrichten gilt. «Unterrichten ist wie Jazz», meint Haymond. Man müsse sich der Klasse, den Fragen und den Interessen der Studierenden anpassen. Der amerikanischer Jazzmusiker John Coltrane habe auch nie zweimal das gleiche gespielt, aber trotzdem immer dasselbe. «Eine solch agile Unterrichtsform ist natürlich sehr anstrengend,» sagt Haymond. Nach zwei Lektionen sei er zwar glücklich, aber völlig erledigt.
Die Agile Hochschuldidaktik ist ein innovativer didaktischer Ansatz, den Christof Arn, Leiter der Hochschuldidaktik an der Universität Luzern, entwickelt hat. Er betont Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in der Lehre, um den Anforderungen und Dynamiken der Lernenden gerecht zu werden.
Wichtige Elemente sind situatives Handeln, echte Interaktion und ein lernendenzentrierter Fokus. Die Agile Hochschuldidaktik fördert eine offene und kooperative Lernumgebung, in der Lehrende und Lernende gemeinsam den Lernprozess gestalten. So ermöglicht sie eine zeitgemässe und effektive Wissensvermittlung, indem sie aktuelle Gegebenheiten integriert.
Neben seiner Arbeit schreibt Haymond Romane; zwei hat er bereits veröffentlicht. Sein Erstling «Shadows within the Fog» ist eine Liebesgeschichte, die sich über tausend Jahre spannt. Sein zweites Buch «The Last Train to Milan», ebenfalls eine Liebesgeschichte, ist vor Kurzem erschienen.
Haymond liebt Geschichten «Für mich ist das Schreiben eine Methode, mich in die Köpfe von anderen Menschen zu versetzen und andere Welten zu erkunden.» «Nein», verbessert er sich, «nicht in die Köpfe von Menschen, sondern von Charakteren meiner Romane. Denn im Laufe des Schreibens verselbstständigen sie sich, entziehen sich immer mehr dem Einfluss des Autors.» Sie entgleiten ihm und entwickeln ein eigenes Dasein.
Das Schreiben selbst sei ein aufwendiger Prozess. Wer glaubt, dass es reiche, sich an die Tastatur zu setzen, und irgendwann sei das Manuskript fertig, täusche sich. «Ich muss dutzendmal revidieren, umschreiben, streichen, etwas hinzufügen oder ganz anders machen», sagt Haymond.
Worauf es beim Schreiben ankommt: auf das Werkzeug und den Geist dessen, der es führt.
Gegen Ende des Gesprächs greift Haymond in seine Tasche und zieht ein Etui mit Füllfederhaltern heraus. Einer stammt vom renommierten Hersteller Kaweco, der andere ist ein japanisches Modell, das ihm ein Freund geschenkt hat. Nein, er schreibe wenig mit der Hand. Aber die zwei Stifte verdeutlichten, worauf es beim Schreiben ankomme: auf das Werkzeug und den Geist dessen, der es führt.
Haymond packt die Füller weg. Auf dem Weg aus dem James Joyce Pub nach draussen fragt er, ob ich wisse, ob es einen vernünftigen Grund für einen Luxusfüller gebe. «Seien Sie offen», sage ich. «Ein paar Strassen weiter gibt einen Laden, in dem Sie Füller für 10’000 Franken kaufen können.» Great. «Let’s go», sagt er.
Veröffentlicht am: 8. Januar 2025
Englisch als Leidenschaft: Benjamin Haymond arbeitet an der Hochschule Luzern – Informatik als Dozent für Englisch.
Von 2008 bis 2010 war er Lektor für Wirtschaftsenglisch an der Universität Bamberg, Deutschland, und 2009 auch Proofreader am Leibniz Institute of Agricultural Development in Central and Eastern Europe in Halle. Nebenbei gab er Sprachkurse und arbeitete als freiberuflicher Dozent.
🌶️ Er engagiert sich im HSLU-Dozierendenverband und kulinarisch hat er sich Chili verschrieben. Ab und zu bietet er ein Chili-Tasting für seine Mitarbeitenden an.
Hier geht’s zu Benjamin Haymonds Website und zu seinem Blog.
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