Wie fühlt es sich an, ausgeschlossen, verdächtigt und ohnmächtig zu sein? Das VR-Lernspiel Saving Anna bringt Spielende genau in diese Situation – ins Luzern des 17. Jahrhunderts, zur Zeit der Hexenverfolgung. Tobias Kreienbühl, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Immersive Realitities Research Lab, hat das Spiel entwickelt, um Geschichte erlebbar zu machen. Es lädt dazu ein, über Ausgrenzung früher und heute nachzudenken.
Obwohl das Spiel sich noch in Entwicklung befindet, wurde es bereits ausgezeichnet: Für seinen mutigen und gesellschaftlich relevanten Zugang erhielt es den Risk Taker Award des Masterstudiengangs Digital Ideation. Auf Basis seiner Masterarbeit entwickelt Kreienbühl das Spiel nun selbstständig weiter.
Emotionales Lernen statt trockener Stoff
Saving Anna ist kein klassisches Lernspiel. «Es ist ein Zugang», betont Kreienbühl. Denn der Stoff ist hart: Im Europa der frühen Neuzeit genügte oft ein Gerücht oder ein Streit mit der Nachbarin, um als Hexe beschuldigt und hingerichtet zu werden. «Ich will niemanden traumatisieren. Aber ich will Emotionen wecken. Weil man dann beginnt, sich selbst zu hinterfragen.»
Vom Alltag in die Katastrophe
Die Spielenden schlüpfen in die Rolle der jungen Tagelöhnerin Anna, welche unter Verdacht gerät, eine Hexe zu sein. Die Erfahrung beginnt mit einem rätselhaften Traum. «Dieser soll den Übergang in die Vergangenheit unterstützten und auch auf eine Gefahr hindeuten», so der Spielentwickler.
«Am Ende stehen drei mögliche Verläufe. Sie unterscheiden sich im Grad der Katastrophe, aber keines endet gut.»
Nach dem Erwachen scheint alles harmlos: Haferbrei essen, Wasser holen, Brot kaufen. Anna geht alltäglichen Tätigkeiten nach, doch mit jeder Handlung gerät sie stärker in Verdacht. «Am Ende stehen drei mögliche Verläufe. Sie unterscheiden sich im Grad der Katastrophe, aber keines endet gut.»
Ein starkes Werkzeug für den Unterricht
Saving Anna richtet sich an Schulklassen der Sekundarstufe I und II. Zwar ist Hexenverfolgung kein Pflichtstoff, doch interessierte Lehrpersonen finden im Spiel einst eine eindrucksvolle Ergänzung.
Bei einem Besuch an der Pädagogischen Hochschule Luzern testen Studierende der Geschichtsdidaktik eine frühe Version und diskutieren die Spielerfahrungen. «Ich hatte wirklich Angst», sagt eine Studentin. Andere loben die Atmosphäre, manche empfinden die Traumszene als zu abstrakt. Kreienbühl nimmt diese Rückmeldungen ernst und passt an, wo es relevant ist.
Ein VR-Spiel mit Wurzeln in Wolhusen
Als Schauplatz des Spiels wählte Kreienbühl bewusst den Ort Wolhusen im Kanton Luzern. «Die Lage im Tal erlaubt es, das Spielgebiet geografisch natürlich zu begrenzen. Und die Kleine Emme dient als stimmungsvolle Kulisse.» Auch die lokale Sagenwelt spielt eine Rolle: Geschichten über den «Türst» oder die Hexe «Sträggele» waren in Wolhusen sehr verbreitet. Der Ort war von Kreuzen umgeben und sollte so vor dem Bösen geschützt werden.
Hinzu kommt die symbolträchtige Kirchenlandschaft: In den 1650er-Jahren begann der Bau der Pfarrkirche St. Andreas, die bald zum Mittelpunkt des Dorfes wurde. 1661 kam die Totenkapelle hinzu, mit ihren eingemauerten Schädeln und dem Totentanz-Gemälde. Auch die Ruine der alten Burg findet im Spiel einen Platz: Sie gilt in historischen Quellen als Treffpunkt vermeintlicher Hexen.
Die Spielfigur Anna ist inspiriert von realen Fällen. Der Name war im 17. Jahrhundert weit verbreitet, auch unter den Frauen, die in Hexenprozessen beschuldigt wurden. «Von den damaligen Prozessen sind meist nur die Protokolle der Obrigkeit erhalten», erklärt Kreienbühl. Diese enthalten in der Regel die Anklagen, Geständnisse unter Folter sowie das Urteil, festgehalten aus der Sicht der Gerichtsherren. Die Stimmen der Beschuldigten fehlen weitgehend.
Um das damalige Leben authentisch darzustellen, wertete Kreienbühl regionale Quellen aus und sprach mit Historikern. Dennoch bleibt Saving Anna ein Spiel: Acht Stunden Feldarbeit wären historisch zwar korrekt, aber böten keinen Spielspass. Stattdessen arbeitet das VR-Spiel mit Zeitsprüngen, Rückblenden und eingebetteten Erzählungen.
Fundierte Entwicklung: zwischen Forschung und Leidenschaft
Im Immersive Realities Research Lab entwickelt Kreienbühl Anwendungen für unterschiedlichste Einsatzbereiche: etwa für Zollprozesse, atemgestützte Therapiespiele oder Museen. Saving Anna hingegen ist sein privates Herzensprojekt.
Seine Faszination für düstere Themen, Game-Design und das Mittelalter fliesst direkt in die Entwicklung ein. Die Idee entstand 2018, als er ein Schweizer Thema für ein VR-Spiel suchte und auf die auffallend hohe Zahl an Hexenverfolgungen in der Schweiz stiess.
Vom Fantasy-Spiel zum Serious Game
Ursprünglich plante Kreienbühl ein Fantasy-Rollenspiel mit Magie, Kampfszenen und dramatischer Flucht. Doch vor seinem Masterstudium in Digital Ideation änderte sich die Ausrichtung. «Um zum Studium zugelassen zu werden und das Spiel als Masterthesis nehmen zu können, habe ich die Idee von einem Action-Spiel zu einem Serious Game weiterentwickelt.»
«Verfolgung war schon immer ein Instrument zur Unterdrückung. Gegen politische Gegner, ethnische Gruppen oder religiöse Minderheiten. Zu verstehen, warum solche Tragödien passieren konnten, ist mein zentrales Anliegen.»
Jetzt geht es nicht mehr um Action. Es geht darum zu zeigen, wie Menschen über Jahre immer mehr an Macht verlieren und am Ende verfolgt werden. «Verfolgung war schon immer ein Instrument zur Unterdrückung. Gegen politische Gegner, ethnische Gruppen oder religiöse Minderheiten. Zu verstehen, warum solche Tragödien passieren konnten, ist mein zentrales Anliegen.»
Der Designprozess orientiert sich am Triadic Game Design Framework von Casper Harteveld. Es verbindet drei Elemente: Spielmechanik, Bedeutung und Realität und ist damit besonders geeignet für Lernspiele mit gesellschaftlicher Tiefe.
Nächste Schritte für das Lernspiel
Aktuell arbeitet Kreienbühl daran, eine spielbare Demo zu erstellen. Unterstützt wird er von Freiwilligen, Künstlerinnen und Historikern. Parallel dazu sucht er nach Partnern und Fördermöglichkeiten, um das Projekt weiterzuentwickeln. «Mein Ziel ist es, das Game langfristig im Unterricht und individuell einsetzen zu können.»
Saving Anna zeigt, wie Geschichte nicht nur vermittelt, sondern mit VR auch erlebt werden kann. Und es stellt unbequeme Fragen, die weit über das 17. Jahrhundert hinausreichen: Wer gehört dazu? Wer bleibt draussen? Und was hat das mit uns zu tun?
Möchtest du das Projekt unterstützen oder dich einbringen? Tobias Kreienbühl freut sich über eine Kontaktaufnahme:
Saving Anna ist ein unabhängiges Herzensprojekt von Tobias Kreienbühl. Um den nächsten Entwicklungsschritt zu ermöglichen und eine spielbare Demoversion fertigzustellen, sucht der Entwickler nach Fördermöglichkeiten und Partnerschaften.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Immersive Realities Research Lab
Hochschule Luzern – Informatik
tobias.kreienbuehl@hslu.ch
+41 41 228 24 65
Von: Yasmin Billeter
Veröffentlicht am: 7. August 2025
Das «Immersive Realities Center» der Hochschule Luzern
Das «Immersive Realities Center» der Hochschule Luzern ist am Departement Informatik angesiedelt und befasst sich intensiv mit immersiven Technologien – also jenen technologischen Ansätzen, die das Abtauchen in virtuelle Welten oder Umgebungen ermöglichen. Im integrierten Research Lab entwickeln Forschende Prototypen und Anwendungen, führen Machbarkeits- und Benutzerstudien durch und beraten Unternehmen und Institutionen rund um den Einsatz von Augmented und Virtual Reality (AR und VR). Weiter bietet das Center speziell für KMU und Berufsschulen einen niederschwelligen Zugang zu Virtual und Augmented Reality. Interessierte Unternehmen und Bildungsstätten aus der Region können im Showroom neue Technologien ausprobieren, mithilfe von Expertinnen und Experten Projekte realisieren und dabei auf die Infrastruktur des Centers zurückgreifen.
Fachkurse Virtual & Augmented Reality:
Der Fachkurs Virtual und Augmented Reality bietet eine Übersicht zu AR und VR und vermittelt neben theoretischen Grundlagen vor allem praxisnahe Inhalte. Die Teilnehmenden gewinnen einen Einblick in die faszinierenden Welten von AR/VR.
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