In der Auseinandersetzung mit Führung (Leadership) entstehen immer wieder vermeintlich neue Konzepte. Als Beispiel aus der Kultur nehmen wir die symbolisch aufgeladene Figur des Orchesterdirigenten, einem typischen Kind des 19. Jahrhunderts. Mit einer Dirigentin entdecken wir, wie sich diese Führungsrolle in den über 200 Jahren entwickelt hat und welches Selbstverständnis sich heute damit verbindet.
Andreas Jäger Fontana, Dozent (AJF): Graziella Contratto, Du beschäftigst Dich seit bald 20 Jahren mit den Parallelen zwischen Business, Führung und Orchesterdirigieren. Beginnen wir doch mal mit dem Geburtsmoment des modernen Dirigenten – wie kam es dazu?
Graziella Contratto, Dirigentin, Unternehmerin, Kuratorin (GC): Das typische Orchestersetting mit einem Dirigenten und dem kleinen Dirigierstäbchen kam zu Beginn des 19. Jahrhundert auf. Bis zur französischen Revolution waren sowohl der Adel als auch die Kirche die Auftragsgeber für Kompositionen bzw. ‚Inhaber‘ von Orchestern oder sogenannten Hofkapellen. Abgelöst wurden diese Auftraggeber durch das aufstrebende Bürgertum. Einer der ersten Dirigenten, der als einziger stehend und mit einer Gesamtübersicht in der Partitur ein kleines (Elfenbein-)Stäbchen schwang, war Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847). Er war Chefdirigent des sogenannten Leipziger Gewandhausorchesters, auch heute noch eines der grossen deutschen Sinfonieorchester. Gegründet wurde es als bürgerliche Einrichtung, initiiert durch Leipziger Textilkaufleute, die sowohl das Orchester wie auch einen Konzertsaal finanzierten. Deshalb auch der Name.
AJF: Warum wurde denn der Dirigentenposten überhaupt eine Bedingung? Viele Orchester hatten ja nur einen ersten Geiger oder einen Cembalisten, manchmal auch einen Taktschläger mit einem Stock oder einer Papierrolle – reichte das nicht mehr aus?
GC: Die Bedingungen, die zur ‚Erfindung‘ des modernen Dirigierens führten, hängen stark mit dem wachsenden Selbstbewusstsein des aufstrebenden Bürgertums zusammen. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg, auch dank der Industrialisierung, wuchs das Ego der Bürger, die sich ein wenig wie Neo-Aristokraten fühlten. Auch in der Kunst – Literatur, bildende Kunst, Musik – wollte sich dieses Ego verherrlicht sehen. Die Komponisten schrieben für dieses wachsende Ego immer komplexere Werke, die Orchestergrösse schwoll an und die psychologische Dichte der Kompositionen explodierte förmlich in der Romantik und Spätromantik des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Gibt es in der Unternehmensgeschichte Vergleichbares?
AJF: Ja, und zwar ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Der Historiker Alfred D. Chandler Jr (1918-2007) beschreibt in diesem Zusammenhang die Entstehung moderner, industrieller Grossunternehmen als einen Übergang vom Personal Capitalism (eigentümergeführt) hin zu einem Managerial Capitalism. Das Organisieren einer Hierarchie von Managern in Grossunternehmen stellte ebenfalls eine zu meisternde Komplexität dar. Der Bedarf an Managementwissen führte zur Gründung von Business Schools (Pennsylvania 1881, Harvard 1908, MIT 1914). Management, nicht Führung standen im Vordergrund.
GC: Könnte man aber dennoch behaupten, dass hier tatsächlich eine Art dirigentische Führung auch im Business-Bereich notwendig wurde? In vorindustriellen Zeiten beherrschte ein Meister sämtliche Produktionsschritte seiner Ware und konnte auch korrigierend eingreifen.
AJF: Dies war in den entstehenden Grossunternehmen durch eine einzelne Person nicht mehr zu leisten.
GC: Genauso wenig wie von einem Dirigenten verlangt werden kann, dass er z.B. das Spiel auf der Klarinette einer Orchestermusikerin besser beherrsch als sie selbst, obwohl er als Leiter das Spiel der Musikerin in die Gesamtstrategie, also die künstlerische Interpretation, einbauen muss. Dirigierende gleichen einem von aussen dazu gekommenem Kontrollorgan. Sie besitzen als einzige eine Partitur (alle Orchestermusiker haben nur jeweils ihre Einzelstimme vor sich), entwickeln eine Strategie, ohne die einzelnen Instrumente zu beherrschen, tadeln, belohnen, kritisieren und haben trotzdem im Dienst des Werks zu stehen. Diese Verantwortung bei gleichzeitiger Nicht-Expertise im operativen Bereich braucht einen Hauch von Magie, damit das wirklich funktioniert – nennen wir es Charisma.
AJF: Wurde über die Wirkung von Charisma nachgedacht, so geschah dies damals vor allem unter Bezugnahme auf die 1841 veröffentlichten Lectures On Heroes des schottischen Historikers Thomas Carlyle (1795-1881). Man spricht im Nachgang zu Carlyle von der Great Man-Theorie. Unter Charisma versteht Max Weber (1864-1920) eine als ausseralltäglich geltende Qualität einer Person, dank welcher sie als vorbildlich und als «Führer» akzeptiert wird. Dabei komme es nicht darauf an, ob diese Qualität objektiv vorhanden ist, sondern nur, ob sie von den Geführten subjektiv wahrgenommen wird. Die charismatische Führung stürzt bei Weber per Definition die Vergangenheit um, ist revolutionär, eine typische Anfangserscheinung. Das Entscheidende ist, dass das Charisma alles Planvolle und Rationale als würdelos ablehnt. Das Schicksal von charismatischer Führung ist es, so Weber, dass sie durch die Prozesse rationaler Gestaltung von Arbeitsprozessen einen Bedeutungsverlust erleidet. Diesen Bedeutungsverlust von Charisma versteht Weber als ein Zurückdrängen der Tragweite individuellen Handelns.
GC: In der Orchestergeschichte des 20. Jahrhunderts haben wir es mit grossen Charismatikern zu tun, wir denken da an Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Herbert von Karajan und Leonard Bernstein – ihnen allen ergaben sich sowohl Orchester als auch Zuhörende mit Leib und Seele. Ich habe während meiner Zeit als Assistentin von Claudio Abbado an der Berliner Philharmonie ein paar Pilgergruppen kennengelernt. Sie reisten dem Maestro überallhin nach, zu horrenden Preisen für Reise, Unterkunft und Tickets, aber das immaterielle Erlebnis eines Konzerts unter seiner Leitung erfüllte sie mit tiefer, offenbar existenzieller Dankbarkeit. Das war schwierig für meine (Boomer-)Generation, die jegliche Form von charismatischer Führung, ja eigentlich Führung allgemein im weiteren Sinne mit Diktatur, Terror und Massenhysterie assoziierte. Wir suchten eine andere Form der Bindung mit unserem Publikum und fühlten uns eher als Vermittelnde. Manchmal denke ich, dass dem Publikum in unseren Konzerten vielleicht etwas fehlt, ich nannte es früher mal das mythische Surplus. Deswegen finden sich auch relativ wenige internationale Big Names unter den 50 – 60-jährigen Dirigierenden. Allerdings gibt es jetzt eine neue Generation von jungen Dirigierenden, die wieder auf jener Genie-Kult-Welle surfen könnten. Sie sind die Enkel der grossen Figuren der Historie.
AJF: Auch wenn sich die Auseinandersetzung mit den Faktoren erfolgreicher Führung im 20. Jahrhundert weiterentwickelte, so spielt sich dies nach wie vor im Kontext des von Chandler so genannten Managerial Capitalism ab. Das Aufkommen neo-charismatischer Führungstheorien in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ist weder zufällig noch eine reine ideengeschichtliche Modeerscheinung. Peter F. Drucker hat in seinem Werk Die post-kapitalistische Gesellschaft (1993) von einer grossen Transformation gesprochen: »We are clearly still in the middle of this transformation – indeed, if history is any guide it will not be completed until 2010 or 2020«. Ausgelöst wurde sie nicht nur von technologischen Innovationen, sondern ebenso vom politisch gewollten Abbau von Marktregulierungen und der damit einhergehenden Intensivierung von Wettbewerbsverhältnissen. Dies löste den erneuten Ruf nach charismatischen, Orientierung gebenden Führungskräften aus.
GC: Wenn man sich z.B. den Orchesterklangs auf Schallplatten eines Herbert von Karajan oder eines Leonard Bernstein aus den 60ern anhört, ist diese stark gestaltende, visionär-romantische Führung immer noch spürbar. Aber auch in der Klassik kam technologischer Fortschritt dazu: Die ersten Stereoaufnahmen von DECCA, die CD, VHS-Kassetten, dann die DVD, die DAT-Aufnahmegeräte – gleichzeitig blieb das Führungsmodell der Dirigenten erstaunlich eng mit dem 19, Jahrhundert verbunden, mit diesem Habitus des Aussergewöhnlichen. Gregor Piatigorsky, ein berühmter Cellist, schrieb einmal sinngemäss, dass der Dirigent als Darsteller Ballerina, Virtuose und Primadonna in Personalunion sei. Wenn man den Pay-Gap zwischen Dirigierenden und Orchester, den Starkult und die PR für Orchesterchefs betrachtet, stimmt diese These immer noch.
AJF: Heute, gegen das Ende der von Drucker vorhergesehenen Transformation und dem Aufkommen von neuen Organisationsmodellen (z.B. sich selbstorganisierende Netzwerke), werden im Sinne von Handlungsempfehlungen Konzepte wie Shared Leadership oder gar Humble Leadership postuliert. Edgar Schein ruft ins Bewusstsein, dass Führung nichts Heldenhaftes zu sein braucht, sondern eher Community Building. Wie haben Orchester diese Entwicklungen aufgenommen, sind sie auf den Zug neo-charismatischer Führung aufgesprungen oder direkt in Richtung Selbstorganisation gegangen?
GC: Meine Generation von Dirigierenden stellt das Werk ins Zentrum, die Kommunikation mit einem (noch anwesenden oder noch zu gewinnenden) Publikum, die historisch informierte Interpretation anstelle jenes Karajan-Sounds, der von Bach bis Schönberg auf jedes Werk drüber gegossen wurde. Humble gefällt mir sehr gut. Ein anderer Führungsstil, der auch aus Orchesterperspektive immer wichtiger wurde, ist der transformationale.
AJF: Also zeigt sich die Bedeutung von Charisma auch in der heutigen Welt des Dirigierens? Der Ansatz der transformationalen Führung von Bernard M. Bass steht ja im Mittelpunkt der neo-charismatischen Führungstheorien. »The transformational leader,« so Bass im Jahr 1985, »uses charisma, individualized consideration, and intellectual stimulation to inspire employees to make extraordinary efforts.«
GC: Ja genau – wenn man sich in Erinnerung ruft, was für ein horrend schwieriges Niveau bei Auswahlverfahren für Orchesterpositionen mittlerweile verlangt wird, ist es logisch, dass eine Art Augenhöhe zwischen Dirigierenden und Orchester eine natürliche Folge sein muss. Die Haltung der legendären Dirigenten, die die teilweise Orchesterleute beschimpften, ihnen Dummheit und Unfähigkeit vorwarfen – davon gibt es auf youtube immer noch ein paar anschauliche Beispiele aus Proben mit Arturo Toscanini – ist definitiv passé. Aber: Ganz ohne Charisma geht es auch nicht, auch wenn ich heute im Sinfoniekontext eher von einem Charisma-Mix sprechen würde. Es gibt Dirigenten und Dirigentinnen, die durch ihr schieres Wissen über eine Epoche ein Orchester faszinieren können. Andere wiederum haben eine starke soziale Kompetenz und verstehen sofort, wie das Orchester zur bestmöglichen Performance gebracht werden kann. Wiederum andere sprühen vor jugendlichem Enthusiasmus und zeigen originelle Wege auf, traditionelles Repertoire neu zu bespielen.
AJF: Charisma zeigt sich somit in der dynamischen Beziehung zwischen Führungsperson und Geführten in jeweils spezifischen Situationen und Kontexten. Die jeweilige Mission ist es, was beide – Führungsperson und Geführte – zueinander führt und zusammenhält. Die Charisma-Forschung in der Tradition Max Webers verdeutlicht eben dies: Charisma ist nicht primär eine Frage aussergewöhnlicher individueller Qualitäten, sondern ein sozialer Prozess als Alltagsphänomen.
GC: Dazu fällt mir abschliessend ein Witz ein: Ein Berliner und ein Wiener Philharmoniker unterhalten sich über den Beginn der berühmten 5. Sinfonie von Beethoven, wenn sie von Wilhelm Furtwängler dirigiert wird. Offenbar ist es trotz des Charismas des Dirigenten nicht ganz einfach, den exakten Einsatzmoment zu erwischen. Der Berliner sagt: »Also wenn der Taktstock zwischen dem 4. und 5. Knopf seines Fracks ankommt, dann setzen wir ein. Wie macht ihr das in Wien?“ Der Wiener darauf: »Also wann’s uns z’bleed wird, fongen wir an.«
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