Distributed Ledger Technology,
Wie schützen geflüchtete Menschen die Vermögenswerte, die sie in ihrer Heimat zurücklassen? Die Blockchain-Technologie könnte ihnen dabei helfen. Teilnehmende des diesjährigen international «Blockchain@UBC Summer Institute» haben dazu Visionen entwickelt.
Von Gabriela Bonin
Die Blockchain kann weit mehr als Kryptowährungen, Smart Contracts oder Metaversen als Grundlage dienen: Als dezentrale Vertrauenstechnologie hat sie auch das Potenzial, geflüchteten Menschen nützlich zu sein. Sie kann das Wichtigste sichern, das Vertriebene oder Geflüchtete nebst ihren Liebsten in der Heimat zurücklassen: Häuser, Grundstücke und weitere Vermögenswerte. Für Flüchtlinge ist es äusserst wichtig, dass sie ihre Ausweise, Eigentumsurkunden und andere Eigentumsdokumente sichern können.
Wie sich diese Werte am besten schützen lassen, damit befassten sich in diesen Tagen die Teilnehmenden des international «Blockchain@UBC Summer Institute». Dieses «Summer School»-Angebot für Freiwillige wird von zwei Partner-Hochschulen gemeinsam durchgeführt: Von der renommierten kanadischen University of British Columbia (UBC) sowie von der Hochschule Luzern – Informatik (HSLU – I).
Ein Block-a-thon brachte neue Visionen hervor
Jedes Jahr am Ende des Sommer Instituts befassen sich Studierende aus Blockchain-Studiengängen der UBC jeweils mit Verbesserungen für das Gemeinwohl. Dieses Jahr wetteiferten sie zusammen mit Studierenden der Hochschule Luzern in einem neuartigen Block-a-thon um die besten Ideen und Lösungen.
Ein Block-a-thon entspricht im Bereich der Blockchain- und Distributed-Ledger-Technologie (DLT) dem Wesen eines Hackathons. Dieser wiederum steht für eine Veranstaltung mit Wettkampfcharakter, in der die Teilnehmenden kollaborativ Soft- und Hardware entwickeln. 2022 lag der Schwerpunkt auf dem Anwendungsfall «Häuser, Grundstücke und Immobilien».
Der Block-a-thon fand von Montag, 18. Juli, bis Freitag, 22. Juli 2022, als Höhepunkt des zweiwöchigen Blockchain@UBC Summer Institute statt. Ziel des Wettkampfs: Die Teilnehmenden sollten dezentrale Lösungen entwickeln, die Vermögenswerte, Immobilien und Grundstücke von vertriebenen oder geflüchteten Menschen sichern. Dabei wurden sie von den Ideengebern Peer Social und Swiss Peace unterstützt.
Die Studierenden sollten innert kurzer Zeit einen Lösungsvorschlag, ein Konzept, einen Prototyp und eine Präsentation erarbeiten. Sie erhielten dazu in der ersten Woche viele Inputs und besuchten Vorlesungen. In der zweiten Woche arbeiteten sie in Teams an ihren Lösungen und präsentierten diese am letzten Tag vor einer Jury.
Die Studierenden wurden für den Block-a-thon in multidisziplinäre Teams mit Mitgliedern aus beiden Universitäten eingeteilt. Diese Teams der University of British Colombia und der Hochschule Luzern – Informatik führten den Block-a-thon online und parallel durch – in Vancouver (Kanada) in Rotkreuz. Sie arbeiteten nach dem Prinzip Follow-the-sun. Aufgrund der Zeitverschiebung von neun Stunden zwischen Vancouver und Rotkreuz gab es pro Tag zwei gemeinsame Stunden, in denen sich die Studierenden untereinander austauschen konnten.
Victoria Lemieux, Professorin und Co-Leiterin von Blockchain@UBC an der University of British Columbia, Vancouver, Kanada, unterrichtete während der Summer School vor Ort in der Schweiz und beriet die Studierendenteams. Zusammen mit unserem Blockchain-Experten Tim Weingärtner begleitete sie Studierende aus verschiedenen Informatikstudiengängen der Hochschule Luzern. Beide Dozierenden sind begeistert von ihren Ideen.
Lesen Sie hier unser Interview mit Victoria Lemieux und Tim Weingärtner:
Herr Weingärtner, bei Blockchain denken viele nur an Kryptowährungen. Worin liegt ihr Potenzial im Bereich Eigentumssicherung?
Weingärtner: Bei Blockchain geht es ja um ein Vertrauensnetzwerk ohne zentrale Vertrauenspartei, also ohne eine sogenannte Trusted Thirdparty. Die Technologie ist verteilt und funktioniert in einem Peer-to-Peer-Netz. Gerade bei Flüchtlingen ist das Thema Vertrauen oder Trust ein enorm heikles Thema. Wem können sie noch vertrauen? Oft nehmen sie auch Nichtregierungsorganisationen, wie die Vereinten Nationen (UNO) oder das Rote Kreuz, nicht als wirkliche Vertrauensparteien wahr. Die Blockchain kann ihnen helfen, Dinge unveränderbar zu dokumentieren und Bestätigungen durch andere, vertraute Personen einzuholen.
Ist das nur für Flüchtlinge wichtig, die vermögend sind? Es besitzen doch längst nicht alle Immobilien.
Weingärtner: Nein, gerade nicht. Es geht nicht nur um Besitztümer von Wohlhabenden. Es geht darum, Eigentum in jeglicher Form zu dokumentieren. Das kann ein Haus, ein kleiner Laden, ein Unternehmen, ein Grundstück oder es können auch andere Wertgegenstände sein. Ebenso gilt es, die eigene Identität zu dokumentieren. Es kommt immer wieder vor, dass Flüchtlingen die Pässe abgenommen werden. Oft bleibt ihnen wenig Zeit, um vor der Flucht alles zu regeln. In ihrer Heimat werden öffentlichen Dokumente wie beispielsweise ein Grundbuch zerstört. Es kann auch sein, dass nicht vertrauenswürdige Parteien die zentralen Instanzen übernehmen, die für Dokumentationen sorgen. Dabei kann selbst die Dokumentation der eigenen Identität oder jene von Familienangehörigen verloren gehen.
Es geht darum, Eigentum in jeglicher Form zu dokumentieren. Das kann ein Haus sein, ein kleiner Laden, ein Unternehmen, ein Grundstück oder es können auch andere Wertgegenstände sein.
Tim Weingärtner
Derzeit sind so viele Menschen auf der Flucht wie noch nie. Hat die Summer School darum das Thema Eigentumssicherung ausgewählt?
Weingärtner: Ja, das Thema ist leider sehr aktuell. Wir machen unsere Summer School zusammen mit der University of British Columbia. Die UBC wiederum führt ihr Summer Institute schon seit mehreren Jahren durch. Sie greift dabei immer aktuelle Themen unter dem Motto «Blockchain for Social Goods» auf. Die Studierenden erhalten also immer Aufgaben, die einem guten Zweck dienen sollen. Dafür arbeitet die UBC dieses Jahr mit Swiss Peace und der Peer Social Foundation zusammen. Diese Stiftung unterstützt die Bildung, Forschung und Entwicklung im Bereich der Open-Source-Software. Die Peer Social Foundation dient dazu, die technologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen digitaler Identitäten besser zu verstehen.
Wir haben während der diesjährigen Summer School aber auch andere, weniger beachtete Aspekte von Flucht kennengelernt. Durch die Klimaerwärmung gibt es zum Beispiel vermehrt lokale Katastrophen, bei denen Personen ihr Hab und Gut verlieren. Auch diesen Flüchtenden muss ermöglicht werden, ihr Eigentum zu dokumentieren.
Frau Lemieux, Sie haben Blockchain@UBC aufgebaut und bereits mehrmals das Summer Institute und den Block-a-thon durchgeführt. Wie haben Sie diese besondere Summer School vor Ort in Rotkreuz erlebt?
Lemieux: Es war eine grosse Freude, nach Rotkreuz zu kommen und die Studierenden der Hochschule Luzern persönlich kennenzulernen: Ich kam mit fantastischen, engagierten Studierenden zusammen. Sie arbeiteten hart an ihren Block-a-thon-Lösungen und tauschten sich begierig mit unseren kanadischen Studierenden aus.
Wie haben Sie die Hochschule Luzern und unser Land wahrgenommen?
Ich war sehr beeindruckt von den Einrichtungen der Hochschule Luzern in Rotkreuz, insbesondere vom Schweizer Innovationspark. Das Blockchain-Ökosystem in Rotkreuz und im nahegelegenen Zug ist unübertroffen. Es hat mir Spass gemacht, neue Projekte sowie talentierte Blockchain-Experten und -Expertinnen kennenzulernen. Sie leiten Projekte zu Themen wie SSI (Self-Sovereign Identity/Selbstbestimmter Identität), DeFi (Definance/Dezentrales Finanzwesen, DAO (Dezentralisierte Autonome Organisation) und zu Themen aus dem Gesundheitswesen.
Leider konnten Sie Ihre kanadischen Studierenden nicht auch nach Rotkreuz mitbringen.
Ja, das bedaure ich sehr. Tim Weingärtner und ich arbeiten daran, dies im nächsten Jahr zu ändern. Wir werden uns um eine Finanzierung bemühen, damit die Studierenden aus Kanada beim nächsten Mal persönlich vor Ort sein können.
Welche Visionen oder Ideen aus dem diesjährigen Block-a-thon haben das Potenzial, tatsächlich umgesetzt zu werden?
Lemieux: Wir haben in allen Lösungen etwas Interessantes und Inspirierendes gefunden. Das Gewinnerprojekt nennt sich «BlockProof». Dafür haben fünf Studierende von beiden Hochschulen eine detaillierte Lösung beschrieben: Sie gingen vom hypothetischen Flüchtling Billy aus. Dieser soll schnell und unkompliziert sein Eigentum dokumentieren können. Die Gewinnerlösung hebt sich durch die Verwendung von SSI und einer DAO für die Governance hervor. Weiter berücksichtigt die Lösung, dass nicht alle Aspekte durch eine Blockchain abgedeckt werden müssen. Sie schliesst die Tatsache mit ein, dass bei einer Flucht nicht alles perfekt funktionieren kann.
Das Gewinnerteam hat sich in die Lage der Flüchtenden versetzt und eine grossartige Lösung entwickelt.
Victoria Lemieux
Die Lösung ist also nahe an der Realität von Flüchtlingen?
Ja, unser Gewinnerteam hat bei dieser speziellen Lösung hervorragend über den Kontext und den Anwendungsfall der Herausforderung nachgedacht. Wir hatten das Gefühl, dass diese Vorschläge wirklich umgesetzt werden könnten. Die Studierenden haben sich in die Lage der Flüchtenden versetzt und eine grossartige Lösung entwickelt. Sie beruht auf einem benutzerzentrierten SSI-Ansatz. Uns gefiel dieser Ansatz auch deshalb, weil nicht alles in der Blockchain sein muss, nur weil wir es können. Der Einsatz der Blockchain muss gerechtfertigt sein.
Welche weiteren Ideen aus dem Block-a-thon haben Sie beeindruckt?
Lemieux: Eines der Teams hat sich zum Beispiel eine Lösung ausgedacht, die auch für Analphabetinnen und Analphabeten eine Hilfe sein könnte. Es war für mich inspirierend, wie sorgfältig und aufmerksam sich das Team damit auseinandergesetzt hat. Das Team schlug vor, dass Flüchtlinge, die nicht lesen können, bestimmte Codes verwenden, die ihnen helfen, sich ihre privaten Schlüssel zu merken und wiederherzustellen. Dies könnte die Benutzerfreundlichkeit wirklich verbessern.
Das Gewinnerteam zeigte mit seinem hypothetischen Flüchtling Billy ebenfalls, dass es sich bewusst war, dass sich ein Teil der potenziellen Nutzenden mit moderner Technologie schwertut. Oder dass Flüchtlinge womöglich keinen Zugang zu Smartphones haben. Die Studierenden haben derartige Hürden berücksichtigt.
Es ist Ihnen also wichtig, dass der Mensch sowie seine Bedürfnisse und Herausforderungen im Zentrum einer Lösung stehen?
Absolut. Wenn Blockchain-basierte Lösungen von Nutzenden akzeptiert werden sollen, so ist es entscheidend, dass wir sehr aufmerksam auf ein menschenzentriertes UI/UX-Design achten. Wir benötigen eine benutzerorientierte Gestaltung. Ich fand es auch grossartig, dass zwei der Teams DAO-basierte Governance vorschlugen. Schliesslich haben die Studierenden dies gerade erst während der Summer School gelernt. Wie schön, dass sie dieses neue Wissen in ihren Entwürfen sofort umgesetzten! Last but not least hat es mich gefreut, wie gut die Studierenden der UBC und der HSLU in länderübergreifender Teamarbeit kooperierten.
Was ist im Bereich Eigentumssicherung bereits heute möglich, was wäre in Zukunft denkbar?
Weingärtner: Bislang gibt es für Flüchtlinge noch keine Lösungen. Aber die Peer Social Foundation arbeitet daran. Sie hat zum Beispiel bereits die ManyoneApps entwickelt: Dabei geht es um den Schutz der Privatsphäre, um dezentrale Speicherung und mobile Lösungen.
Es wäre super, wenn man – wie mit einem Reputationssystem – Eigentum dokumentieren und durch andere bestätigen lassen könnte. Dabei müssen aber auch Betrug- und Fake-Informationen berücksichtigt werden. Unsere Studierenden haben im Block-a-thon gezeigt, welche Aspekte wichtig sein können. Wir sind inspirierenden und kreativen Lösungen begegnet.
Frage in die Runde: Welche weiteren Einsatzmöglichkeiten für die Blockchain sehen Sie? Haben Sie Fragen dazu? Bitte schreiben Sie Ihren Kommentar hier zuunterst in die Kommentarspalte.
Veröffentlicht am 27. Juli 2022
Lesetipp: Lesen Sie im Online-Magazin BTC-ECHO mehr über das diesjährige Summer Institute und die Motivation der Teilnehmenden. Ebenso erfahren Sie im gleichen Magazin auch mehr über das Crypto-Valley in der Region Zug, die dortige Community-Stimmung und welche Rolle die Hochschule Luzern – Informatik dabei spielt.
Verantwortlich für das Summer Institute: Tim Weingärtner ist Dozent und Forscher an der Hochschule Luzern – Informatik. Das Programm des Summer Institutes wird von ihm und Victoria Lemieux in Rotkreuz sowie von Chang Lu in Vancouver geleitet. Die kanadischen Beteiligten arbeiten bei der angesehenen University of British Columbia (UBC) in Kanada. Victoria Lemieux hat Blockchain@UBC aufgebaut und ist renommierte Professorin und Buchautorin. Blockchain@UBC gilt als eines der besten Blockchain-Programme in Kanada.
Bessere Qualität dank Zertifikaten: Blockchain kommt weltweit immer mehr zum Einsatz. Entsprechend steigt die Nachfrage nach Weiterbildungen in diesem Fachbereich. Das DEC Institute, ein Konsortium mit Beteiligung der Hochschule Luzern, will deshalb mit international anerkannten Standards für mehr Qualität und Transparenz in der Weiterbildungslandschaft sorgen.
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